kulturfreak.de Besprechungsarchiv Theater, Teil 6

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Flieg, Oberst, flieg!

schauspielfrankfurt, nachtschwärmer
Besuchte Vorstellung:
14. März 07 (Premiere)

Mit Hristo Boytchev vor elf Jahren entstanden Stück „Flieg, Oberst, flieg“ hat das schauspielfrankfurt ein Stück gefunden, das bestens zum aktuellen Spielzeitmotto „Selig sind die Armen im Geiste – Wo bleibt das Himmelreich?“ passt. Schließlich handelt es von einer Gruppe Menschen, wo jeder mehr als eine ausgeprägte Macke hat und dennoch nach einer anderen, besseren Welt strebt.
Die ehemalige Donaubrücken-Zöllnerin Pepa (rollenbedingt zurückhaltend: Anne Müller) hat in den letzten fünf Jahren 27.375 LKWs abgefertigt, kennt jeden LKW-Fahrer und diese kennen sie. Damit ist klar, dass sie nicht nur eine dienstliche Beziehung hatten (weshalb sie sich jetzt im Kloster in Buße übt). Matej (großartig: Moritz Peters) glaubt er sei klein und hat Angst, dass einer auf ihn draufsteigt (dazu ist er ein ausgeprägter Kleptomane). Der sechsfache Vater Hatcho (amüsant: Sebastian Schindegger) leidet unter der Schande, als Zigeuner trotz Lustempfinden mit totaler Impotenz konfrontiert zu sein, dazu ist er wegen einer in der Kaserne explodierten Granate taub. Fast normal erscheint da Fetisov (energisch: Heiner Stadelmann), der erst jahrelang still unter den anderen weilt und sich dann erinnert, ein Oberst zu sein.
Dieses illustre Gespann ist mit seinen kleinen und großen Nöten dem Zuschauer sehr nah. Hristo Boytchev hat ihre Geschichte geschickt mit satirischen Anspielungen auf den Traum vom goldenen EU-Westen, wie auf die Folgen des Krieges, verwoben.
Da es keinen Strom und keine Heizung mehr gibt, hausen sie zusammen in einem Raum, in einem verlassenen Kloster: eine Einöde irgendwo in den Bergen des Balkans. Julia Plickats Bühne zeigt hierfür eine große quadratische Sandfläche mit zwei Kisten und einem aufblasbaren Plastiksessel für den Doktor (Christopher Brandt), dessen Hinfahrt in die Anstalt zu Beginn per Videoeinspielung  gezeigt wird. Nicht nur der Besuch des Doktors sorgt für Abwechslung in dieser Gruppe, auch die immer gleiche Nachrichtensendung und ein NATO-Hilfspaket, dass ein Flieger auf einem Fehlflug abgeworfen hat.
Regisseur Paul-Georg Dittrich verzichtet auf Übertreibungen, schließlich ist das Stück für sich stark genug.
Am Ende verlassen die fünf ihre kleine Welt, treten frontal zum Publikum, beseelt von der Überzeugung die wunderschöne Welt zu finden, für die sie geschaffen sind (während im Hintergrund zum Song „Beautiful World“ Fallschirmspringer ein Freudenfest im Himmel feiern). Wer wollte dies Glück ihnen nicht gönnen?

Markus Gründig, März 07


Der Auftrag

schauspielfrankfurt in der schmidtstrasse12
Besuchte Vorstellung:
15. Februar 07 (Premiere)

Heiner Müller begriff das Theater stets als Laboratorium, als Versuchsanstalt, ohne selbst Richtungen, Antworten oder gar Lösungen vorzuschlagen. Sein 1980 in Ost-Berlin uraufgeführtes Stück „Der Auftrag“ ist im Prinzip auch kein Stück im klassischen Sinn, schon gar nicht in der Inszenierung von Martin Nimz. Ein hochgeistiger Texte wird zur Disposition gestellt, im derzeit am schauspielfrankfurt beliebten Aufführungsformat von zwei Stunden ohne Pause.
Die Objekte von Joep van Lieshouts Grundraum der schmidtstrasse12 wurde hierfür teilweise zerlegt und mit einer Folie abgedeckt und an die Seite geschoben. Die dadurch gewonnene große Spielfläche ist markiert mit geometrischen Figuren (wie Kreise und Dreiecke). Als erstes wird die Geschichte der drei Revolutionäre flott von den fünf Darstellern (Roland Bayer, Wolfgang, Gorks, Andreas Haase, Abak SafaeiRad und Ruth Marie Kröger) an einen langen Tisch vorgetragen. Dem folgt ein stummer, andächtiger Lauf der Darsteller entlang der markierten Formen, ein vorsichtiges Suchen, Abtasten und Annähern. Schließlich wurde eine Position gefunden, von wo aus das zentrale Element des Abends gegeben wird: die Erzählung vom Mann im Fahrstuhl. Dies ist ein knapp zwanzig minütiger Monolog, der nacheinander von allen fünf Darstellern vorgetragen wird (eine Zeiteinnehmende Umsetzung). Jeder der Darsteller erzählt die Geschichte mit seinem ganz eigenen Stil (empfindsam: Ruth Marie Kröger, markant: Andreas Haase, herzlich: Abak SafaeiRad, leicht zynisch: Roland Bayer und heiter: Wolfgang, Gorks), was die Angelegenheit zumindest auflockert. Zum Ende hin wird eine Portraiaufnahme Heiner Müllers auf einer Leinwand gezeigt, dazu, fast wie eine Entschuldigung wirkend, der Text „Unheil muss man im Theater so lange wiederholen, bis das Unheil müde wird und aufhört zu existieren“. Das Nachdenken über das eben so oft gehörte kann nun beginnen.

Markus Gründig, Februar 07


Kampf des Negers und der Hunde

Volksbühne Berlin zu Gast im schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung:
27. Januar 07 (Premiere)

Gastspiele bieten den Vorteil, andere Sichtweisen, Interpretationen und auch andere Spielweisen zu erleben, ohne selber reisen zu müssen. Als Gastspiel der Berliner Volksbühne ist jetzt Bernard-Marie Koltès textschweres Stück „Kampf des Negers und der Hunde“ (Regie Dimiter Gotscheff) zu sehen. Wobei mit Wolfram Koch ein alter Bekannter mit von der Partie ist. Und noch etwas Bekanntes springt einem gleich ins Auge. Wie bei der jüngsten Armin Petras Produktion, Prinz Friedrich von Homburg“ fällt auch bei der Volksbühnenproduktion ständig etwas vom Bühnenhimmel herunter (Bühne für beide Produktionen: Katrin Brack). Wer sich jetzt frierend die Arme reibt, kann sich aber ganz entspannt zurücklehnen und diesen Abend mollig warm genießen. Hier sind es kunterbunte Pergamentpapierfetzen, die unaufhörlich auf die Bühne heruntergleiten und für eine zauberhafte, zarte und lebensfrohe Atmosphäre sorgen. Für das ernste Thema des Stücks stellen sie einen heftigen Kontrast dar. So ist es Aufgabe der Schauspieler, Koltès Anliegen um die Unfähigkeit der Verständigung zwischen der reichen westlichen Welt und der „Dritten Welt“, aber letztlich zwischen den Menschen generell, zu vermitteln, auf die Gefahren und Probleme der Globalisierung hinzuweisen.
Die Intensität der vier Darsteller in ihrem Spiel und ihre gleichzeitige vorherrschende Natürlichkeit machen diesen Abend zu einem ganz außergewöhnlichen Theaterhighlight, der vom Publikum auch enthusiastisch beklatscht wurde. Einfach bravourös Milan Peschels als Cal, wie er in einem afrikanischen Dialekt den Kontinent auf die Bühne zaubert, Wolfram Koch als arbeitsmüder Horn, Almut Zilcher als seine weltfremde Verlobte Léone und Samuel Finzi als sein weit gereister und Hobbyreicher Albourny.
Dabei bietet ihnen die Bühne von Katrin Brack nur einen großen leeren Raum, mit einem Steg (nebst Plattform) weit in den Zuschauerraum hinein. Aus diesen erheben sich auch eine Schar Jugendlicher, die als Chor in die Anklage mit einstimmen und am Ende auf der Bühne zum finalen Schlag ausholen: „Immer schön sauber, mitten in die Fresse“.
Eine weitere Gelegenheit diese Inszenierung zu sehen besteht am Valentinstag (14. Februar 07).

Markus Gründig, Januar 07


Gotthelm oder Mythos Claus

schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung:
25. Januar 07 (Premiere)

Der mehrfach ausgezeichnete Autor Michael Lentz (Jahrgang1964) ist Präsident der Freien Akademie der Künste Leipzig und seit dem letzten Jahr auch Professor der Universität Leipzig (Deutsches Literaturinstitut Leipig). 1999 promovierte er mit einer zweibändigen Dissertation über „Lautpoesie/-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme“.
Im Kleinen Haus des schauspielfrankfurt wurde jetzt sein erstes Theaterstück uraufgeführt. Das Spiel mit der Sprache ist in diesem ungewöhnlichen Stück das wesentliche Element. Anders als man es sonst mit Dialogen und Monologen gewohnt ist, hat Lentz hier eine kreative, lautmalerische Kalauerposse geschrieben, mit einem hochgradig artifizielle Text. Dabei gibt es dennoch viel zu lachen, jagt doch ein überdrehter Witz den nächsten. Manches bleibt aber auch auf der Strecke, da der Text sehr abgehoben und absurd ist. „Eine Trophobie“ lautet der Untertitel des Stücks. Erst in Verbindung mit dem vorangestellten „Claus“ ergibt sich die Klaustrophobie, die krankhafte Angst vor engen Räumen, vor denen die sieben (plus eine) Figuren leiden. Sie tragen alle den gleichen männlichen Vornamen (Claus), wodurch sie zu jedermanns Stellvertreter werden. Doch besser nicht, denn jede Claus hat hier für sich ihren eigenen Dachschaden.
Sie alle haben altbackene, weite Pullover mit Applikationen an, wie sie auch gerne von Frauen auf dem Land getragen werden. Folgt man ihrem Versuch, das Kreuzworträtsel der Societyillustrierten zu lösen mit offenen Ohren, muss man sich nicht über das Ergebnis der Pisa-Studie wundern. Noch schlimmer kommt es aber, wenn jede Claus aus der körpergroßen „Megahaube 2000“ austritt und die Frisur ihres Lebens gewonnen hat. Mit der äußerlichen Veränderung geht auch eine innere einher, bei der jede auf der Suche wer oder was Gott ist, ihre eigene Selbsterfahrungsausdrucksszene eingeräumt bekommt: mit Räucherkerze, An- & Ausziehwahn, Technikzwang, Selbsterfahrungszwang oder nur mit einem Homunkulus.

Gotthlem oder Mythos Claus
schauspielfrankfurt
6x Claus: Sabine Waibel, Nadja Dankers, Anna Grisebach, Eva-Christine Richter, Victroia Mayer und Katrin Grumeth (v.l.n.r.)
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de

Die Bühne von Uli Winters zeigt im Hintergrund aufgereiht gewöhnliche Friseurhauben, davor Stühle für die Damen, der vordere Bühnenboden wird zur Talkrunde nach oben gefahren. In der Mitte befindet sich die ominöse „Megahaube 2000“, die stets mit fetziger Soundkollage öffnet und schließt. Zwei schmale Säulen im siebziger Jahre glitzterdiscolook tragen das mit vielen buntern Lichtern versehene Vergnügungsparkdach (womit deutlich wird, das das innere Vergnügen in ein Äußeres eingerahmt ist; die Spaßgesellschaft ist überall).
Die Inszenierung unter der Regie von Christiane J. Schneider ist unterhaltsam und kurzweilig. Jeder der sieben Claus (Kerstin Becker, Nadja Dankers, Anna Grisebach, Katrin Grumeth, Victoria Mayer, Martina Maria Reichert, Eva-Christine Richter, Sabine Waibel) nutzt die Gelegenheit, zur expressiven Darstellung, Kerstin Becker als Eineurostehimwegclaus beobachtet die ganze Zeit über, um sich am Ende auch in die „Megahaube 2000“-Haube zu stürzen. Wohl bekomms!

Markus Gründig, Januar 07


Die Dreigroschenoper

schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung:
19. Januar 07 (Premiere)

Jeder kennt sie, jeder mag sie: Brechts Dreigroschenoper ist ein Ausnahmestück, das an seiner flächendeckenden und altersübergreifenden Popularität nichts eingebüßt hat. Theaterhäuser erfreut es, füllt es doch fast wie von selbst die Kasse. Doch die Popularität kann auch zum Problem und zum Ballast werden, weil jeder seine eigene feste Vorstellung von dem Stück hat, dass seine gesellschaftskritische Brisanz längst verloren hat und dessen Lieder zu netten Evergreens geworden sind, vor denen selbst Popstars wie Robbie Williams nicht halt machen. Auch ist die gesellschaftliche Situation eine ganz andere. Butter auf herabfallenden Brotsamen als Ausdruck für Wohlstand ist nur noch in Geschichtsbüchern von Bedeutung. Dies führt natürlich zu der Frage, was kann dieses Bürgerschreck-Stück früherer Tage über seine populären Lieder hinaus vermitteln und wie ist es zu inszenieren? Derb, um wohlstandssatte Bürger aufzurütteln, oder lieber klug poetisch?
Im schauspielfrankfurt ist die letzte Inszenierung noch gar nicht so lange her (1995). Jetzt feierte unter der Intendanz von Frau Dr. Elisabeth Schweeger „Die Dreigroschenoper“ in einer pausenlosen Zweistunden-Fassung eine vom Premierenpublikum triumphal aufgenommene Neuinszenierung (mit reichlich Zwischenapplaus). Eine Produktion, die auf die humoristisch unterlegte Variante setzt, bei gleichzeitigem ernsthaften Anspruch und Respekt Bertolt Brecht gegenüber (das Theater als Theater zeigend).
Regisseur André Wilms musste krankheitsbedingt zehn Tage vor der Premiere aussteigen, doch das Haus nutzte diese schwierige Situation zur intensiven Zusammenarbeit aller Beteiligten und so gleicht es fast einem kleinen Wunder, welch homogene Inszenierung dabei herausgekommen ist. Eine Aufführung, die bewegt und erheitert und dessen hochmotivierte Darsteller vollends überzeugen, beste Unterhaltung pur also.

Die Dreigroschenoper
schauspielfrankfurt
Jochim Nimtz & Karin Neuhäuser
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de

Ein großer, stimmungsvoller Bühnenprospekt deutet bereits die Szenerie an: zu sehen ist ein großer Gebäudequerschitt mit vielen kleinen Einheiten und niedrigen Decken, in denen comicartig geschäftig Menschen geduckt umherlaufen. Es herrscht eine dunkle Nachtstimmung, ein kleiner Mond leuchtet. Als Moritatensänger (Schauerballadensänger) tritt ein Junge (Jonas Maiwald) seitlich auf. Schon zu Beginn also eine erste Anspielung auf Leute, die im Abseits der Großen stehen. Sein Lied kann er nicht beenden, schon kommt der besungene Macheath selber an und schubst ihn in den dunklen Graben. Noch vor dem Bühnenprospekt (das nach der Ouvertüre nach oben gezogen wird), sitzt das famos aufspielende Orchester. Wie bei der Inszenierung 1995 ist auch jetzt wieder das hochkarätige Ensemble Modern dabei, diesmal unter der Leitung von Nacho de Paz (alternierend: Manuel Nawri) und unterstützt von Musikern der Internationalen Ensemble Modern Akademie. Mit ihren weißen Hemden und blauen Westen scheinen sie wie weiß-blaue Vertreter des konservativen Lagers das Spiel zu konterkarieren. Doch gespielt wird aufwendig mit musikalischer Detailverliebtheit die Originalpartitur mit Originalbesetzung (überwiegend zwei Musikern pro Instrument), wodurch Kurt Weils ausgefuchste Harmonien bestens erklingen.

Die Bühne von Adriane Westerbarkey zeigt (werkdienlich) mit Provisoriumscharakter die vier Spielorte (Heim der Peachums, Macheaths Bude, den Pferdestall und das Bordell), bestehend aus herausgerissenen Sperrholzbretterbuden. Unterschiedliche Neonröhren sorgen für Unterscheidung der auf zwei Ebenen angebrachten Behausungen, nach hinten ist die Bühne verkleinert worden. Zwischendurch ist auch immer wieder ein weiteres stimmungsvolles Bühnenprospekt zu sehen: dunkle Wolkenstimmung mit Sternenhimmel.

Die harmonische Ensembleleistung mit vier gutgelaunten Anhängen Macheaths (Max Landgrebe, Sebastian Schindegger, Bert Tischendorf und Florian Stamm), viel Bein zeigenden Huren (Sarah Bauerett, Dorothee Lochner, Alina Rank, Nadia Schneider &Varia Sjöström) und einem Bettler (Bruno Thalhäuser) wird von den großartigen Hauptdarstellern gekrönt, allen voran mit Karin Neuhäuser als Celia Peachum. Neuhäuser sorgte bereits im November als Regisseurin von „Die Orestie“ für Furore und war in der vergangenen Saison in „Die Präsidentinnen“ von Werner Schwab als Grete zu erleben. Die dort bereits gezeigte Verruchtheit führt sie hier gesteigert fort, als herrlich schrullige, ausdrucksstarke, schräge Ehefrau, in ihrer Naivität und Natürlichkeit gleichwohl herzallerliebst. Selbst wenn sie vor sich hindöst, ist es noch eine Freude sie zu beobachten. Martin Nimtz gibt kraftstrotzend dem Edel-Verbrecher Jonathan Jeremiah Peachum ein prägnantes, kantiges Profil und scheucht auch vor eine Moonwalksequenz nicht zurück). Die Polly Peachum der Sascha Icks spielt genüsslich ihre Macht über den Schurken Macheath aus, der von Wolfram Koch als zeitgemäßer Gefühls-Verführer gegeben wird, so dass es nachvollziehbar ist, dass sich ihm die Frauen an den Hals werfen und die Jungs ihm dienen. Im Schulmädchenrock wirkt Chris Pichler als Lucy kindhaft, während Yvon Jansen eine abgebrühte Spelunken-Jenny gibt. Wunderbar zwischen Proletariat und Anstand spielt Michael Lucke die Rolle des zwischen den Fronten stehenden Polizeichefs Brown.
Die gesangliche Leistung fällt unterschiedlich aus, was bei diesem Stück für singende Schauspieler aber beabsichtigt ist (teilweise werden dezent Funkmikrofone zur Verstärkung eingesetzt), der Chorgesang entfacht eine ungeheure Wucht, die einen regelrecht in den Sitz zurückdrückt.

Als bei der Premiere die Musiker aus dem Graben reichlich Rosen auf die Bühne warfen, wurde die außergewöhnliche Harmonie zwischen Musiker und Darsteller schließlich für alle sichtbar und das wie elektrifizierte Publikum war kaum noch zu bremsen.

Markus Gründig, Januar 07


Max Black

Gastspiel des Théâtre de Vidy-Lausanne E.T.E. im schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung:
29. Dezember 06


Als „Musiktheater“ wird dieses Programm bezeichnet. Musik gibt es dabei allerdings nur am Rande und ein klassisches Theaterspiel darf man auch nicht erwarten, denn dafür sind die Monologe des einzigen Darstellers von viel zu spezieller Natur. „Max Black“ ist eher ein hochgeistiges Gesamtkunstwerk auf den Ebenen Darstellung, Text, Licht (nebst Pyrotechnik) und Tönen. Jede dieser Ebene ist dabei gleichberechtigt und alles hat hier seine Zeit. Es gibt eine Zeit des bedeutungsschweren Sprechens, eine Zeit für visuelle Glanzlichter und eine Zeit für akustische Preziosen. Verbundenes Element ist der Naturwissenschaftler Max Black, eine Bühnefigur die Bezug nimmt zum Philosophen Max Black. Dieser wurde 1909 in Aserbaidschan geboren und wuchs in London auf. Während eines Studienaufenthaltes in Göttingen lernte er seine spätere Frau Michal Landsberg kennen, ab den 40ern lebten sie zusammen in den USA, wo er 1988 starb. Max Black führte den Begriff der Vagheit in die Mathematik ein und bildete damit eine Basis für die Fuzzy-Logik, die mittlerweile Alltagsbestandteil geworden ist. Aufgrund der Fuzzy-Logik können beispielsweise Waschmaschinen mit „leicht verschmutzter“ Wäsche genauso umgehen können, wie mit „stark verschmutzter“ Wäsche. Beides sind ungenaue, unmathematische Angaben. Die Fuzzy-Logik beschäftigt sich gerade mit diesen ungeraden Werten, die zwischen „0“ und „1“ bzw. zwischen „ja“ und „nein“ stehen und hilft so, dass elektronische Geräte, Computer und Maschinen dem (oftmals unlogischen) menschlichen Denken näher kommen.

Doch in dem Stück geht es nicht nur um Max Black. Heiner Goebbels hat in dieses Konglomerat von philosophischen Schriften auch Texte von Paul Valéry, Ludwig Wittgenstein und Georg Christoph Lichtenberg aufgenommen, die zu 99% in französischer Sprache (mit deutschen Übertiteln) und zu je 0,5 % in Deutsch und Englisch vorgetragen werden. Max Black besteht so aus insgesamt vier Personen. Er fasst sich selbst zusammen mit den Worten corps, esprit und monde, deren Initialen er plakativ aufmalt und am drahtigen Vorhang effektvoll entflammt.

Der Naturwissenschaftler Max Black sitzt zwischen im Raum verteilten Labortischen an seinem großen Schreibtisch und beginnt bereits mit Eintreten des Publikums mit seinen Selbstgesprächen. Während er über die Gewohnheit des Kaffeetrinkens resümiert, geraten die Nebengeräusche zum Hauptakteur, der Deckel der Kaffeemaschine und das Kullern des Zuckerwürfels in der Kaffeetasse etwa. Später sind es Fahrradspeichen, Lichtschalter und Schallplatten, die akustisch verstärkt und verfremdet, neue Klangerlebnisse vermitteln. Aus einem Karton entweichen herrliche Rauchringe, die Max Black versucht einzufangen. Dies gelingt freilich ebenso wenig wie die Kontrolle über das Feuer (das als Sinnbild für das rätselhafte Denken steht). Das Feuer wird in diesem Stück nicht nur auf dem Labortisch gezündet sondern es brennt auch auf dem Boden und sucht sich seinen eigenen Weg, bis es Max Black schließlich final umhaut.
Acht Aquarien hängen mittig im Raum, wie alle Gegenstände werden auch sie besonders angestrahlt und ausgeleuchtet. Im vordersten Aquarium steht eine Schreibtischminiatur, Sinnbild für den sich selbst erfindenden Wissenschaftler Max Black. In der zweiten Vitrine steht ein ausgestopfter Vogel, ebenso auf einem Plattenteller. Hierzu passt Wittgensteins Kommentar zur Unterscheidung des Vogels vom Menschen „“Könnte ein Vogel genau sagen, was er singt, warum er singt, warum er das singt und was in ihm singt, so würde er nicht singen“. “

Heiner Goebbels hat „Max Black“ 1998 speziell für den Schauspieler und Regisseur André Wilms geschrieben, der auch in der Frankfurter Aufführungsserie (ein Gastspiel des Théâtre de Vidy-Lausanne E.T.E) zum Jahresende 2006 die Figur des Wissenschaftlers übernahm, die abstrakten Texte mit Leben füllte und als Medium die gezeigten unterschiedlichen Elemente exzellent verband.

Markus Gründig, Dezember 06


Tod eines Handlungsreisenden

schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung: 22. Dezember 06 (Premiere)

Schmalspur Miller

Nach der Premiere von Millers „Hexenjagd“ im November im Großen Haus folgte am schauspielfrankfurt jetzt Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ im Kleinen Haus. Das Stück hatte im Februar 1949 seine Uraufführung in New York und entstand noch vor der „Hexenjagd“.
Einem größeren Kreis ist „Tod eines Handlungsreisenden“ durch die Schlöndorff Verfilmung mit Dustin Hofmann von 1985 bekannt. In Frankfurt ist noch die Inszenierung von Holger Berg in Erinnerung (1984), mit Martin Schwab als Willy Loman und Rosemarie Fendel als Linda. Damals wurde das Stück im Großen Haus gespielt, jetzt im Kleinen Haus. Die Verlegung auf die kleinere Bühne ist nicht die einzige Zurechtstutzung dieses Stückes. Das Inszenierungsteam verweigert dem Publikum selbst die Bühne des Kleinen Hauses. Sie wurde kurzerhand mit den gleichen Backsteinen zugemauert, aus denen die Seitenwände im Zuschauerraum bestehen. Als Spielfläche steht nur ein breiter, aber schmalen Steg zur Verfügung. Das Wohnzimmer der Familie Loman wurde so zu einer intimen Gefängniszelle, nah am Publikum. Die Rückwand hat keine Fenster, aber eine Aussparung für einen Bildschirm, auf dem meist einsame Nachtfahrten durch einen Wald zu sehen sind (Video: lsabel Robson, auch Kostüme). Auf weitere Requisite wurde größtenteils verzichtet, lediglich ein Verkaufsautomat hängt an der Wand, zwei Bälle liegen auf dem Boden, ein paar Strumpfhosen werden an die Wand gehängt (Bühne: Jens Burde). Auch der Text wurde auf pausenlose zwei Stunden gekürzt, was sich besonders beim lückenhaften Ende bemerkbar macht.
Mangels Türen haben die Schauspieler die ganze Aufführung über auf der kleinen Fläche auszuharren, nur Lomann kann mit Badeschlappen eine Runde durch den Zuschauerraum spazieren (Regie: Florian Fiedler).

Tod eines Handlungsreisenden
schauspielfrankfurt
Susanne Böwe (Linda), Christian Kuchenbuch (Willy Lohman) & Özgür Karadeniz (Charley/Onkel Ben/Howard Wagner)
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de

Die schauspielerischen Leistungen machen den streitbaren Inszenierungsansatz durchaus wett. Christian Kuchenbuch gelingt es sehr gut das Bild des am Abgrund stehenden Lomans aufzuzeigen. Özgür Karadeniz gefällt in der Dreifachbesetzung als Charley, Onkel Ben und Howard Wagner. Die Problemkinder der Lomans werden von Stefko Hanushevsky und Moritz Peters eindringlich gegeben, wobei Stefko Hanushevsky Können, Rollen nicht nur zu spielen sondern die Figuren mit intensiven Ausdruck als reale Menschen aufzuzeigen, auch hier wieder auffällt. Etwas statisch wirkt die Linda der Susanne Böwe, die in Doppelrolle auch Willys Chef ist. Als nahezu stille Frau aus Willys dunkler Vergangenheit gibt Naomi Saint Rose ihr Debüt.

Markus Gründig, Dezember 06


Prinz Friedrich von Homburg

schauspielfrankfurt in Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater (Berlin)
Besuchte Vorstellung:
21. Dezember 06 (Premiere)

Erfolg schützt vor Strafe nicht

“Prinz Friedrich von Homburg“: das ist ein Stücktitel, der alles andere als verlockend klingt, erinnert er doch stark an ungeliebte Schulpflichtlektüre. Doch mit Armin Petras als Regisseur ist von vornherein klar, dass es keine altbackene Inszenierung werden kann. Petras war am schauspielfrankfurt bis zum Ende der Spielzeit 2005/2006 Hausregisseur und Kurator der Spielstätte schmidtstrasse12, seit dieser Spielzeit ist er Intendant am Berliner Maxim Gorki Theater (wo er einen von Publikum und Presse bejubelten Start hinlegte).
„Prinz Friedrich von Homburg“ ist ein durch die neonazistische Vereinnahmung nicht unumstrittener Klassiker, um das Thema Subordination, der Unterordnung des Individuums unter (staatliche) Regeln. Im Mittelpunkt steht Prinz Friedrich Arthur von Homburg, der erfolgreich in der Schlacht von Fehrbellin die Schweden geschlagen hat, statt Dank aber dem Militärgericht übergeben wird und die Todesstrafe erhält, da er ohne auf den offiziellen Marschbefehl zu warten, in die Schlacht gezogen ist. Weil er sich schließlich zu seiner Schuld bekennt, sein Todesurteil schließlich selbst fällt und somit die staatliche Ordnung achtet, kann er begnadigt werden. Prinzessin Natalie von Oranien mischt bei dem ganzen Geschehen kräftig mit, nicht nur in seinen Träumen. Die Fabel erzählt aber mehr: „Die Sternstunde einer vitalen Persönlichkeit, die im ursprünglichen Drange ihres Menschseins stupide gesellschaftliche Normen unfreiwillig ad absurdum führt. “ (Theater der Zeit). Petras strich für diese Inszenierung Nebenrollen und kürzte den Text auf pausenlose zwei Stunden, ließ ihn ansonsten aber nahezu unangetastet.

Der Abend beginnt und endet mit dem düsteren Lied „Bin ich nur glücklich wenn es schmerzt“ der Böhse Onkels (Album Viva Los Tioz von 1998). Ein schmerzvoll vorgetragenes Lied das zum einen von der Sehnsucht nach einer Frau handelt (die einem das geben soll, wonach man immer gesucht hat), zum anderen die Bereitschaft zu Schmerz und Trauer hinterfragt. Beide Themen passen zum verliebten Prinzen, der ja dem Tod in die Augen schaut.
Diesen dunklen Liedversen entsprechend, herrscht eine unfreundliche Atmosphäre der Kälte auf der großen, leeren und dunklen Bühne: feiner Regen rieselt unaufhörlich herab (Decken auf jedem Sitzplatz im Zuschauerraum schützen vor kühler Zugluft; Bühne Katrin Brack). Eine Welt im Dunst der Gischt, indem sich das Licht der Scheinwerfer immer wieder in neue Optiken bricht. Eine Welt weder total dunkel noch total hell, eine Zwischenwelt, eine zauberhafte Traumwelt, in der der Prinz gefangen ist. Per schwarz-weiß Video (arrangiert von Chris Kondek ) laufen im Hintergrund Bilder, die wohl des Prinzen Seelenleben widerspiegeln. Mit dabei ist immer wieder ein Aal, der sich durch diese Bilder hindurchschlängelt, ein unruhiges Wesen auf der Suche (in der Traumdeutung bedeuten Aale die sich winden, die Ankündigung von unangenehme Ereignisse und Nachrichten).

Prinz Friedrich von Homburg
schauspielfrankfurt in Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin
Robert Kuchenbuch (Prinz Friedrich Arthur von Homburg)
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de

In der Mitte des vorderen Bühnenrands steht einzig eine Bierflasche, die sich der aus dem Dunkeln hervortretende Prinz (Robert Kuchenbuch) schnappt und sich einen beherzten Schluck genehmigt. Gekleidet mit neuzeitlicher enger schwarzer Hose, kariertem Hemd und mit Lederjacke vermittelt er optisch nichts von einem blasierten Prinzen, hat nichts Höfisches oder Preußisches in seinem Äußeren. Ein lebensnaher Typ, den man auch jederzeit in Frankfurt oder Berlin auf der Strasse treffen könnte. Robert Kuchenbuch gibt den Prinzen als verträumten Sonderling und als kleinen Anarcho-Helden. Kuchenbuch zeigt dabei viele Facetten, lässt Brandenburgs Fahnen wehen, schlittert über den nassen Boden, kämpft, liebt und liegt geschlagen in Embryonalstellung am Bühnenrand (wie ein Samenkorn dass erst sterben muss, um neue Frucht zu tragen).
In alledem wirkt er stets authentisch und erfreut mit bester Artikulation. Selbst am Ende, beim Schlussapplaus, zieht er noch die Rolle des streitbaren Sonderlings und des Träumers durch. Mit Rücken zum Publikum steht er abseits da, während seine Kollegen den Applaus des begeisterten Publikums entgegennehmen.

Anders als der Prinz tragen die weiteren Darsteller historisierende Kostüme. Die Damen weite Röcke und die Herren Uniformen. Peter Kurth spielt den Kurfürst als standfesten Souverän, Susanne Buchenberger ist eine elegante und sensible Kurfürstin, während Sandra Bayrhammer eine ungestüme, emotional reiche Prinzessin Natalie gibt. Andreas Haase argumentiert als Obrist Kottwitz mit Herz und Witz und Gunnar Teuber überzeugt als Graf Hohenzollern.

Markus Gründig, Dezember 06


Otelo – o alemão do Brasil

Ein Projekt von „Der fremde Blick“
Gastspiel im schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung:
16. Dezember 06

Brasilien ist das fünftgrößte Land der Erde (mit nur etwas über 180 Mio. Einwohner). Seine dynamische Volkswirtschaft zählt heute zu den zehn größten der Welt. Brasilien ist Deutschlands wichtigster Partner in Südamerika und Deutschland ist Brasiliens wichtigster Partner in Europa. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern sind nicht nur wirtschaftlicher Art, auch auf dem kulturellen Gebiet gibt es traditionsreiche Verbindungen. Eine noch recht junge ist „Estranha Visão / Der fremde Blick“, ein interkulturelles Projekt des brasilianischen Schauspieler, Regisseur und Theaterlehrer Marcos de Souza, das im Jahr 2002 gegründet wurde.

Der brasilianische Dramaturg Gustavo Bicalho und die deutsche Regisseurin Lilli-Hannah Hoepner (seit der Spielzeit 2006/2007 Regieassistentin am schauspielfrankfurt) haben für das Projekt „Estranha Visão / Der fremde Blick“, den Shakespeare-Klassiker „Othello, der Mohr von Venedig“ umgeschrieben, aktualisiert und angepasst. Die Proben zu dem Stück fanden in Brasilien statt, was für die beiden beteiligten deutschen Schauspieler eine besondere Herausforderung war, konnten sie doch bislang kein Portugiesisch und de Souza´s Projekt entsprechend, mussten sie sich ohne ein Wort Englisch mit den fünf portugiesischen Schauspielern verständigen. Das Stück wird überwiegend in Portugiesisch gespielt, deutsche Übertitel werden eingeblendet.

Nach knapp zwanzig Aufführungen im Sommer dieses Jahres in Rio de Janeiro erfolgte im Herbst eine geringe Anpassung der Produktion an das deutsche Publikum, die im November erstmals im Münchener Volkstheater zu sehen war. Nach Frankfurt passt dieses Stück um Fremdheit ganz besonders, schließlich leben hier friedlich Menschen aus rund 180 Nationen (knapp 26 Prozent der Einwohner haben keinen deutschen Pass).

Otelo – o alemão do Brasil
Der fremde Blick ~ Estranha Visã
Brabânti (Marcos de Souza ), Otelo (Sebastian Edtbauer) & Desdêmona (Fernanda Oliveira)
Foto: Nadine Loës

„Othello, der Mohr von Venedig“ heißt es bei Shakespeare, die deutsch-brasilianische Variante heißt Otelo – o alemão do Brasil: Otelo, der Deutsche von Brasilien. Denn hier sind die Verhältnisse umgekehrt. Da Otelo – o alemão do Brasil in Brasilien spielt, sind die Brasilianer die Einheimischen. Der fremdartige Mohr Othello von Shakespeare ist hier ein deutscher Gringo. Ein Unternehmensberater, der Brabântios erfolgreichen Unternehmen europäischen „Input“ bringen soll und sich in dessen schöne Tochter Desdêmona verliebt…
Bicalho und Hoepner halten sich an die bekannte Vorlage hinsichtlich der Handlung, nicht aber, was den Text anbelangt. Dabei wurden die Vorurteile dem Außenseiter gegenüber besonders herausgearbeitet. Dies macht deutlich, dass auch vierhundert Jahre nach der Uraufführung des Originalstücks, sich die Menschheit nicht groß weiterentwickelt hat. Für die Deutschen bedeutet Brasilien Kaffee, Samba und Fußball und selbstherrlich glauben sie nach kurzer Zeit zu wissen, wie dem Land zu helfen ist. Andererseits haben auch die Brasilianer den Deutschen, den Sauerkrautfressern, gegenüber ihre Vorurteile.

Der Beginn der Aufführung wirkt zunächst etwas unprofessionell. Die Schauspieler stehen vor einer großen Leinwand, bei sonst leerer Spielfläche und könnten in ihren Alltagskleidern auch ganz normale Leute aus dem Publikum der schmidtstrasse 12 (dem Aufführungsort) sein. Doch mit dem Auftritt von Brabântio ändert sich der erste Eindruck. In Form des Deutsch-Brasilianer Marcos de Souza kommt eine ungeheure Wucht auf die Bühne, nicht nur was sein Volumen anbelangt, vor allem darstellerisch, mit großer Präsenz und Autorität.  Dem steht Sebastian Edtbauer als bajuwarischer Otelo nicht nach, der sich einfältig der Liebe Desdêmonas (berührend: Fernanda Oliveira) hingibt, aber immer wieder auch seinen Jähzorn durchblicken lässt, sodass man ihm am Ende seine enorme Wut auch abnimmt. Die schürt mit großer Lust der Iago in Form des galanten Arley Veloso. Als Frau, die sich mit den Umständen arrangiert hat und ihren eigenen Sinn für das Praktische gefunden hat, erweist sich fabelhaft Mayra Capovilla (Emilia). Den vergeblich liebenden Rodrigo gibt sensibel Danilo Rosa.
Eine weitere Ebene der Ausgrenzung haben Bicalho und Hoepner bei der Figur der Branca geschaffen. Anfangs sehr wortkarg fällt sie mit ihrem eindringlichen, musternden Blick auf und Vermutungen werden dann auch bestätigt: Branca ist ein Mann. Das hat auch Cássio (Marco Massafra) nicht gemerkt, als er bei der ersten Begegnung von ihren Augen gefesselt wurde und sie seitdem trotz alledem liebt und sich zu ihr bekennt.

Anders als auf dem hier gezeigten Bild (und dem auf der Stück-Infoseite), waren die Schauspieler für die Frankfurter Inszenierung mit moderneren Kostümen gekleidet und hatten elegantere Frisuren.
Als einzige Requisite dient die Leinwand im Hintergrund, die als Schattenspiel genutzt wird. Schlagerklassiker wie „Kann denn Liebe Sünde sein“ oder „Die Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe“ werden unterhaltsam und geschickt eingebunden.
Inszeniert wurde das Stück von der Autorin Lilli-Hannah Hoepner. Trotz geringer Mittel und ohne Bühnenbild gelang ihr und den jungen Schauspielern eine zu Herzen gehende Umsetzung dieses Klassikers.

Markus Gründig, Dezember 06


patriot act

schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung:
6. Dezember 06

Beim ersten Nachtschwärmer Stück der laufenden Spielzeit ging es um ein theoretisches Modell: um die Wiedergabe der in den Wänden von Gebäuden gespeicherten Töne und Stimmen. Ein ganz reales Thema ist Grundlage von „patriot act“. Hier geht es um den 1942 in Chicago (Illionois, USA) geborenen Terroristen Theodore John Kaczynski. In gewisser Weise steht das Stück somit in Nachfolge zu Heins „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ in der vergangenen Saison, wo es um den deutschen Terroristen Wolfgang Grams („Bad Kleinen“) ging. In Zeiten nicht nachlassenden Terrors weltweit machen auch die Theater nicht halt vor diesem Thema. So will sich das Staatsschauspiel Stuttgart in der Saison 2007/08 unter dem Projekttitel „Endstation Stammheim“ mit dem Terror der Roten Armee Fraktion auseinander setzen.

Kaczynski verschickte in den USA im Zeitraum von 1978 bis 1995 sechzehn Briefbomben, wodurch drei Menschen getötet und 29 verletzt wurden. 1996 wurde er aufgrund eines Hinweis von seinem Bruder, gefasst und 1998 zu dreimal lebenslänglich verurteilt. Seitdem sitzt er im ADMAX Florence, einem Gefängnis mit der maximalen Sicherheitsstufe, das auch den Titel „Alactraz in den Rockies“ trägt.

Was Kaczynskis Fall interessant macht ist, dass er ein überaus intelligenter Mensch ist, in Mathematik promovierte und eine Assistenzprofessur an der Universität von Berkeley innehatte. Diese gab er freiwillig auf und verschwand, lebte viele Jahre einsam in den Bergen. Er schrieb ein, durchaus philosophisches, 35.000 Wörter umfassendes Manifest: „Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“, für ein Leben nah an der Natur. Für ihn ging es nicht darum, Regierungen zu stürzen, sondern die Menschen von Technik und falschen Strukturen zu befreien. Genie und Wahnsinn liegen bei ihm eng beieinander, passend auch zum nachtschwärmer Spielzeitmotto „Hart am Rand der Hirnrinde“.

Das Projekt patriot act von Martin Baasch (auch Regie) reflektiert Kaczynskis streitbare Haltung für eine Verbesserung der Welt. Baasch lässt dabei im Stil einer modernen US-Kriminalsendung schlagartig die Szenen wechseln. Auf der rechten Spielhälfte hält sich Kaczynski auf, als Rufer in der Wüste mit Megafon, dunklen Holzfällerhemd, robuster Hose und festen Stiefeln, Kappe in Armeedesign mit Ohrenwärmer. Er zimmert sich aus den herumliegenden Hölzern eine Waldhütte. Mit Schnauzer und Dreitagebart nähert sich Martin Butzke optisch an Kaczynski an, mit leicht starrem Blick vermittelt er spannend diese Person zwischen nachdenklicher Zurückhaltung und emotionalen Ausbrüchen. Einsamkeit ist für ihn relativ. Einsam kann man auch in der Familie, auf der Arbeit und selbst unter Menschenmassen sein. Er fühlt sich während seiner Zeit im Wald nicht einsamer als eine Blume, ein Haselnussstrauch oder ein Baum.
Auf der linken Spielfläche ermitteln in einem kleinen Büro zwei Mitglieder der FBI Sondereinheit im Fall des „Unabomber“ (so der vorläufige Spitzname Kaczynskis, da seine Briefbomben überwiegend an Universitäten und Fluglinien gerichtet waren). Sascha Maria Icks im Kostüm und Bert Tischendorf aufgelockert im weißen Hemd, die Ärmel nach oben gekrempelt, mit Hosenträger und Hornbrille. Der Zeit entsprechend geben die beiden optisch ein klassisches Ermittlerduo, folgen engagiert den Spuren Kaczynski zurück in die Vergangenheit, befragen ihn und sich (beim Zwischenspiel „USA-Einreise“) und wechseln dabei die Positionen innerhalb des Gesamtraums.
Das ganze geschieht vor einem idyllischen Landschaftsbild im XXL-Format, dass die kalte Atmosphäre des Zwischendecks vergessen lässt: ein romantischer Bergsee, lichte Wälder, hohe Berge und blauer Himmel beamen die Rocky Mountains in den Raum. Die Seiten sind mit erdfarbigen Vorhängen begrenzt, die Zuschauer sitzen nah an der Spielfläche und nur zum Teil auf den sonst meist üblichen Foyerstufen (Bühne und Kostüme: Julia Plickat).

„Patriot act“ ist in erster Linie ein „vaterländisches“ US-Gesetz, das als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 geschaffen wurde (u.a. dürfen nun terrorverdächtige nicht-US-Bürger unbeschränkt in Haft genommen werden, es gibt erhöhte Bedingungen für USA-Reisen). Das gleichnamige Projekt von Martin Baasch verharmlost nicht die Brutalität und ist auch kein Plädoyer zugunsten des Terrorismus. Es rückt aber ins Bewusstsein, dass die Ursachen dazu in der Gesellschaft liegen und die Positionen unseres gesellschaftlichen Lebens deshalb immer wieder hinterfragt werden sollten.

Markus Gründig, Dezember 06


Perdita Durango

schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung:
1. Dezember 06 (Uraufführung)

Der amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor Barry Gifford (Jahrgang 1946) ist in Deutschland durch die Verfilmung seines Romans „Wild at Heart“ (Regie: David Lynch) bekannt geworden. Sein 1992 entstandener Roman Perdita Durango dürfte dagegen weitgehend unbekannt sein, zumal er hier nur bei Rowohlt als Comic erschienen ist. Die Filmversion des spanischen Regisseur Alex de la Iglesias wurde mit einem FSK18 belegt, wobei bei der gezeigten Version noch einige brutale Szenen ausgelassen wurden und der Film ganze 12 Minuten kürzer als die Originalfassung war. Es ist ein Film jenseits vom Mainstream.

Ralf Fiedler und Sebastian Baumgarten haben jetzt eine Bühnenfassung des Romans erarbeitet, die in der Außenspielstätte schmidtstrasse12 des schauspielfrankfurt ihre Uraufführung erlebte. Beides sind erfahrene Theaterleute. Ralf Fiedler hat sich vor allem als Dramaturg/Chef-Dramaturg einen Namen gemacht. Sebastian Baumgarten wurde für seine Orest-Regiearbeit an der komischen Oper Berlin jüngst als „Regisseur des Jahres“ ausgezeichnet. Am kommenden Freitag (9. Dezember 06) hat die Benjamin Britten Oper „Peter Grimes“ Premiere in der Dresdner Semperoper, bei der er auch die Regie innehat (sowie im April 07 in der Oper Magdeburg bei Vivaldis „Orlando furioso“). Baumgarten schrieb für Perdita Durango nicht nur die Bühnenfassung mit, sondern inszenierte auch gleich die Uraufführung, die er ohne eine Pause in 135 Minuten spielen lässt.
Sex and Crime ist das beherrschende Thema. Es geht um ein ungewöhnliches Paar, das mehr aus Zweckgemeinschaft denn aus tief empfundener Liebe zusammen ist, auf ihrer Reise durch den Südwesten der USA. Da ist zum einen die Prostituierte Perdita Durango, ein weiblicher Outlaw, die vor nichts und niemandem zurückschreckt. Sie lebt ohne Ziel und schließt sich Männern an, die sie auf ihrer Reise in eine andere Stadt mitnehmen und aushalten. Mit analytischer Schärfe durchschaut sie die Männer, doch trotz ihres Intellekts grenzt sie sich von der bürgerlichen Welt ab, findet allein im Sex und bei Gewaltausübung ihre Befriedigung, ihr Glück. Henriette Heinze gibt die Außenseiterin Perdita Durango nicht als Überweib, auch wenn sie mit ihren mächtigen und gelockten schwarzen Haaren schon optisch aus dem Rahmen fällt. Bei aller Stärke und äußerer Härte scheint stets ein warmer Kern durch, der sie interessant und anziehend macht und teilweise reflektieren sich bei ihr auch die nicht gelebten Wünsche des Zuschauers.
Aljoscha Stadelmann hat erst kürzlich als Peer Gynt in dieser Saison in der schmidtstrasse12 sein schauspielerisches Können für eigenwillige Charaktere bewiesen. Als Romeo Dolorosa zieht er Perdita in seinen Bann. Zusammen fallen sie über das Teenagerpaar Estelle (Abak Safaei-Rad) und Duane (Max Landgrebe) her, das sie entführt haben. Dazu werden sie von zwei Drogenfahndern (Rainer Frank und Falilou Seck) verfolgt. Außer Heinze und Stadelmann spielen alle mehrere Rollen. Baumgarten fordert dabei besonders von Safaei-Rad und Landgrebe viel, denn die beiden sind als Estelle und Duane Ritualopfer von Perdita und Romeo und werden von diesen entsprechend hart malträtiert. Da Perdita aber auf Duane abfährt und Romeo auf Estelle, wendet sich ihr Schicksal und sie entrinnen dem Tod und sind später gar Gäste einer TV-Talk-Show. An ihrer Stelle muss dafür ein großes Huhn (Falilou Seck) dran glauben. Safaei-Rad und Landgrebe spielen großartig, geben den Figuren Tiefe und Profil und schrecken auch vor lautstarken emotionen nicht zurück.

Der Spielzeit-Einheitsbühnenraum von Joep van Lieshout mit seinen drei unterschiedlichen hölzernen Behausungen bzw. Umgebungen fügt sich dabei gut in das Stück ein, erstmals kann auch die Sanitäreinheit funktionsgerecht genutzt werden, auf dem großen Multifunktionstischliegeplatzregal lagern etliche Kartons mit Romeos geschmuggelten Plazentas. Was aufgrund der geringen Mittel in der schmidtstrasse 12 an Kulisse fehlt, wird kurzerhand auf den Boden gemalt, wie etwa die Mexikanisch-/US-amerikanische Grenze; ein Lenkrad und ein Kreuz werden zu einem überdimensionalen Propeller umgebaut… Das Kreativteam hat sich viel einfallen lassen (Produktionsleitung und Ausstattungsassistenz: Julia Plickat), sodass ein mehrmaliger Besuch empfehlenswert ist.

Der ernste wie komische Abend ist kein klassischer Theaterabend, sondern ein nahezu multimediales Ereignis, ein Spiel ums Spiel, mit weisen Kommentaren (per Videocomic), Landschaftsbildern (per Videoeinspielungen), Filmausschnitten, Musik und TV-Moderation (glänzend: Rainer Frank). Dazu gibt es Trash-Kämpfe, Schüsse, viel Blut, nackte Haut, Urin und Sperma (aber keine Angst, alles ist nur jugendfreies Spiel) und last but not least: schauspielerisch hervorragende Leistungen. Ein „Muss“ für denjenigen, der das Besondere liebt.

Markus Gründig, Dezember 06


Hexenjagd

schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung:
26. November 06 (Premiere)

John Proctor trägt Vollbart und einen Hut, über seinem hellen Hemd hat er eine dunkle Jacke übergezogen, passend zur schwarzen Hose. Vor Gericht wird er später gedemütigt, nackt muss er sich den inquisitorischen Fragen stellen. Doch dass ist lange her und bezieht sich auf die vorhergehende Hexenjagd-Inszenierung im schauspielfrankfurt, die unter der Regie von Dietrich Hilsdorf am 23. März 1986 Premiere hatte. Keine Ahnung warum, doch der nackte John Proctor ist in Erinnerung geblieben, selbst nach 20 Jahren noch, wenn auch nur lose. Hilsdorfs Hexenjagd ging damals knapp eine Stunde länger als die aktuelle Inszenierung von Martin Nimz. Die überwiegend schwarzen Kleider und Schleier der vielen Dorffrauen und Mädchen, wie auch die schwarzen Roben der Richter, sorgten damals für eine bedrohliche, finstere Stimmung.

Hexenjagd
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Abigail Williams (Anne Müller), John Proctor (Oliver Kraushaar)
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de

Spannend und stellenweise ergreifend ist auch die aktuelle Hexenjagd-Inszenierung, die mit einem kargen, aber sehr schlüssigen, Bühnenbild gegeben wird (bei den vielen Inszenierungen pro Saison ist es unumgänglich, dass nicht jede opulent ausgestattet werden kann). Olaf Altmann hat jeweils zwei hohe Sperrholzwände auf die rechte und linke Bühnenseite gestellt, in der Mitte ist ein Korridor frei, in dem am Anfang das Ehepaar Proctor am Tisch sitzt und isst. Die übrigen puritanischen Bewohner von Salem ereifern sich zunächst im Zuschauersaal. Erst kippen die beiden vorderen Sperrholzwände nach hinten weg, dann die hinteren. Jegliche Intimität, jeder private Schutzraum ist jetzt aufgehoben und das Unheil bemächtigt sich der Proctors.
Durch Absenken von Bühnenteilen entstehen auf der großen, offenen Bühne zwei Stege, die sich in der Mitte kreuzen. Auf diesen Stegen bewegen sich die Pastoren, der Richter und die Kinder. Proctor hingegen hält sich unterhalb der Stege auf. Gespielt wird er von Oliver Kraushaar, dem Mann mit der herrlich tiefen Stimme im Ensemble vom schauspielfrankurt. Im offenen Hemd und mit Trägershirt nimmt man ihm sein Farmersein leicht ab. Den tiefen Gewissenskonflikt und die furchtbare Not in der Proctor steckt, vermittelt er durch sein charmantes Lächeln dabei jedoch nur bedingt. Sabine Waibel wurde von der Maske als seine verblühte Ehefrau Elizabeth geschminkt. Waibel kann die Verletzung dieser Frau, den Schmerz den sie in sich trägt, imponierend vermitteln, erst recht wortlos: mit bekümmerten Blicken. Auch ohne Last auf den Rücken sieht man, dass diese Frau viel zu ertragen hat.
Auch ohne Nacktheit wird Anne Müller als durchtriebenes Kindweib Abigail Williams mit ihrer enormen Suggestionskraft in Erinnerung bleiben. Als Medea hat sie bereits im vergangenen Mai in der Nachtschwärmerproduktion „Jason“ ihr Talent für komplexe Frauenrollen vorgestellt. Nach Ensemblerollen in GierFahrenheit 451 und in Kampfchor Galaktika, kann sie nun erstmals in einer Hauptrolle im Großen Haus ihr außergewöhnliches schauspielerisches Talent zeigen. Mit einer starken Präsenz in Mimik und Haltung wechselt sie zwischen schutzbedürftigen Mädchen, verlassener Geliebter und heftig Anklagender.

Hexenjagd ist ein dankbares Stück, das schon stark von sich aus ist. Arthur Millers Intension, der Gewissensberaubung durch die Gesellschaft entgegen zu wirken, wird in dieser Inszenierung zwar nur flüchtig vermittelt, kurzweilig und unterhaltsam ist die Produkton nicht zuletzt wegen der geschlossenen und starken Ensembleleistung aber allemal.

Markus Gründig, November 06


Liebesruh

schauspielfrankfurt
Besuchte Vorstellung:
25. November 06 (Premiere)

König Friedrich Wilhelm III. von Preußen verdankt die evangelische Kirche, das am Sonntag vor dem ersten Advent den Toten gedachte wird, insbesondere der Gemeindemitglieder, die im zurückliegenden Kirchenjahr verstorben sind (die Katholiken tun dies immer an Allerseelen, dem 2. November). Am Vorabend des diesjährigen Ewigkeitssonntages setzte das schauspielfrankfurt die Premiere von Jan Neumanns Stück Liebesruh. In dem 90-minütigen Stück geht es um den Verlust eines lieb gewonnenen Menschen, um die Würde des Menschen und um Sterbehilfe. Themen, die betroffen machen, denn in eine vergleichbare Situation kann jeder jederzeit kommen, sei es durch Krankheit oder Unfall.
Das Stück wurde im Oktober 05 in der Regie von Isabel Osthues im Hamburger Thalia Theater uraufgeführt (die Österreichische Erstaufführung fand vergangenen Oktober im Schauspielhaus Graz statt). Bei der Frankfurter Inszenierung führte Jan Neumann (Jahrgang 1975) selber Regie. Autor und Regisseur in Personalunion, da ist 100 % Werktreue impliziert. Mit ruhiger Hand führt er durch das Stück und lässt den Schauspielern genügend Zeit für viele innige und intime Momente. Die einzelnen Szenen werden jeweils mit Lichtwechsel und einem Piepston eingeläutert. Dieser Ton gleicht dem Signalton eines medizinischen Gerätes. Erinnerungen an Arzt und Krankenhausbesuche werden während der Aufführung immer wieder wach und erzeugen eine beklemmende Ergriffenheit.
Zu Beginn rauscht das Meer, so laut und intensiv, als würde man unmittelbar an einer Reling stehen. Wild peitschten die Wellen um einen herum, die förmlich zu spüren sind, volle Intensität. So stark ist auch die Liebe zwischen dem Paar Karl (geschockt und seelisch paralysiert: Felix von Manteuffel) und Regine (Leslie Malton), die am kleinen Strand diese Naturgewalt genießen und dabei ihre Liebe feiern. Voller glühender Leidenschaft, mit in sich ruhender Stärke und Harmonie gibt Malton diese Regine, eine beneidenswerte Person. Doch schneller als gedacht wird dieses Glück jäh unterbrochen, ja zerstört. Ein Schlaganfall durch eine Thrombose in der “Arteria basilaris” verändert das Leben von Regine, denn sie erleidet das so genannte „Locked-In-Syndrom“. Bei vollen Bewusstsein und intakten Hörsinn, sind jegliche Muskeln, der ganze Bewegungsapparat, gelähmt. Einzig mit ihren Augen kann sie mit der Umwelt kommunizieren. Leslie Malton liegt nahezu die gesamte Aufführung über „gefangen“ im Krankenhausbett, eine Kamera überträgt das verstörte und traurige Spiel ihrer Augen auf eine kleine Leinwand. Erschütternd der Moment, als sie nach Wochen erstmals in einen Rollstuhl gesetzt wird, der Körper leblos, selbst der Kopf muss gestützt werden. Welchen Wert hat ein solches Leben? Karl erlöst sie schließlich, indem er sie auf ihren Wunsch hin, schweren Herzens, sanft tötet.
Eingerahmt in einen weißen, nach hinten offenen, Bühnenraum, finden die vier Spielorte (Krankenhaus, Wohnung, Kantine und Kiosk) gleichzeitig auf der Bühne Platz (Ausstattung: Rudolf Bekie), die eine aufgeräumt wirkende, klinisch reine Atmosphäre ausstrahlt. Die Zeitschriftentitelbilder des Kiosks zeigen strahlende, junge Frauen. Platz für das Leid der Menschen und all die Schattenseiten unserer Existenz ist auf diesen nicht.

Liebesruh
schauspielfrankfurt
Karl (Felix von Manteuffel), Regine (Leslie Malton)
Foto: Alexander Paul Englert ~ englert-fotografie.de

Neumann kann natürlich keine Lösungen geben, zum Nachdenken stiftet er aber allemal an. Zusätzlich konterkariert er die schweren Themen mit humoristischen Einlagen, was der Stimmung gut tut. Da gibt es noch Karls langjährige Kollegen, Allerweltstypen mit auch gleich den passenden Namen: Meier (Heiner Stadelmann) und Müller (Roland Bayer). Mit ihren kleinen Missgeschicken in Form von umherfliegenden Knödeln und Ergüssen aus der Maggiflasche sorgen sie beim mimenreichen und wortkargen Essen in der Kantine für etliche Lacher im Publikum. Oder der Nachbar (Wolfgang Gorks), dessen Bericht über sein Pech mit Haustieren schmunzeln lässt. Karls Bruder (Michael Lucke) hätte sich beinahe einst Regine geschnappt, heute hat er keine Zeit, sich um Karl zu kümmern, ihm ein wenig seiner Zeit zu schenken und redet lieber von seinen eigenen Problemen. Die fürsorgliche Ärztin (Katrin Brumeth) und der Pfleger (Bert Tischendorf) sind für Karl da fast schon eine größere Hilfe.
“Mitten wir im Leben sind – mit dem Tod umfangen“ heißt es in im kirchlichen Wochenlied zum 24. Sonntag nach Trinitatis. Der Tod ist der natürlichste Bestandteil unseres Daseins, auch wenn er in der Gesellschaft so gut wie nicht thematisiert wird. Liebesruh stößt den Zuschauer auf ihn hin, ohne in Sentimentalität zu verfallen, so dass man mit einem Mix aus Anteilnahme und Beschwingtheit das Theater verlässt. Dies beim Zuschauer zu erreichen ist ein Kunststück für sich.

Markus Gründig, November 06