Höllenspektakel auf Herzensbühne: »Ichundich« an den Frankfurter Kammerspielen

IchundIch ~ Schauspiel Frankfurt ~ Die Dichterin (Friederike Ott) ~ © Robert Schittko
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Der inhaltliche Schwerpunkt der Spielzeit 2020/21 am Schauspiel Frankfurt lautet schlicht »Antisemitismus«. Es stellt sich damit aktiv und streitbar einer wachsenden Gefahr entgegen, die alle betrifft. Die Rarität IchundIch von Else Lasker-Schüler (1869 – 1944) passt dazu unmittelbar, denn sie thematisiert in allegorischen und autobiografischen Szenen die Geschichte der jüdischen Verfolgung.
Die theatralische Tragödie liegt lediglich als Fragment vor. Sie entstand in den frühen 1940er-Jahren in Jerusalem. Dort verbrachte die Dramatikerin und expressionistische Lyrikerin ihre letzten Lebensjahre. Das Stück wurde erstmals 1979 in Düsseldorf gespielt. Vergangenen November wurde, als Auftragswerk der Staatsoper Hamburg und komponiert von Johannes Harneit, eine Opernversion davon uraufgeführt.

IchundIch
Schauspiel Frankfurt
Mephisto 2 (Tanja Merlin Graf), Faust (Matthias Redlhammer)
© Robert Schittko

Farbenfroher Höllengarten

Äußerer Rahmen ist eine Theaterprobe, die der legendäre Regisseur Max Reinhardt leitet, Else Lasker-Schüler verfolgt und kommentiert als Dichterin den Ablauf. Diese steht zu Beginn vor dem verschlossenen Vorhang und begrüßt das Publikum und lädt es zum „Höllenspiel“ ein. Im schwarzen Gewand wie Lasker-Schülers Figur des Prinz Jussuf von Theben, mitsamt dazugehöriger Flöte, zeigt sich Friederike Ott gewandt und sprachmächtig.
Die Bühne, zunächst mit Arbeitslicht ausgeleuchtet, zeigt diverse Requisiten. Sie stehen, verstreut und teilweise dem Publikum abgewandt, verteilt herum. Erst wenn das Spiel im Spiel beginnt, wirkt der Theaterzauber. Mit anderer Ausleuchtung und Umstellung entsteht ein farbenfroher Höllengarten (Licht: David Schecker). Darin ein überdimensionaler Kopf der Dichterin (die das Geschehen aus dessen rechtem Auge und dem Gehirn heraus observiert). Und ein Thron im Stil der Universal-Bibliothek. Eine Referenz, denn die vom Verlag Philipp Reclam jun. gegründete Universal-Bibliothek startete 1867 mit Goethes Faust I und Faust II.
Relativ viel Aufwand wurde in die Kostüme gesteckt: Marte Schwertlein (köstlich als gefallene Engelsflügelchen in Aspik ankündigend: Heidi Ecks; auch Vogelscheuche) trägt ein Folklorekleid im Schwarzwaldstil, die Nazis erscheinen wie Zinnsoldaten, mit zeitgemäßen Slogans (wie „JBG jung, brutal, gutaussehend“ auf Goebbels rechten Schuh) und Mephisto hat imposante Hörner (Ausstattung: Verena Dengler, Dominique Wiesbauer). Kurze musikalische Einlagen (darunter teilweise Schlager) lockern die Szenen zusätzlich auf.

IchundIch
Schauspiel Frankfurt
Goebbels (Uwe Zerwer), Göring (John Sander), von Schirach (Anna Bardavelidze)
© Robert Schittko

Grenzen zwischen Fiktion und Realität sind aufgehoben

Faust und Mephisto streiten über Himmel und Hölle, wie auch über die Vorherrschaft von Gewalt und Willkür. Dichterin und Figuren sind in ein IchundIch aufgespalten. So übernimmt Mephisto auch die Verantwortung für die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten und Goebbels wirbt um Marthe Schwerdtlein. Mephisto will sich von einem Teil seines Ichs trennen, denn Hitler könnte ihm den Rang ablaufen. Also lässt er ihn in die Tiefe der Hölle fahren (wofür aufwendig ein großformatiges Herz in den Bühnenboden geschnitten wurde). Am Ende ist die himmlische Ordnung wiederhergestellt. Die Dichterin spricht nach ihrem Schlussmonolog hinter dem Vorhang „Ich freu mich so, ich freu mich so: Gott ist da!“.
Zahlenmäßig ist das Stück groß besetzt. Als Figuren in diesem grotesk-komischen Spiel treten neben Heidi Ecks und Frederike Ott spielfreudig auch die neu zum Ensemble zählende Tanja Merlin Graf (als Mephisto 2), Florian Mania (als Mephisto 1 / Baal), Matthias Redlhammer (als Faust), Wolfgang Vogler (als Kritiker Mr. Swet) und Uwe Zerwer (als Goebbels) auf.
Vom neuen StudiojahrSchauspiel sind vier Mitglieder dabei: Anna Bardavelidze (als von Schirach), Fenna Benetz (als Regisseurin), Nina Plagens (als Ausstatterin) und John Sander (als Göring / Hitler).

Christina Tscharyiski liefert bei ihrer ersten Regiearbeit für das Schauspiel Frankfurt eine gelungene Umsetzung dieses Höllenspektakels.

Markus Gründig, Oktober 20


IchundIch

Von: Else Lasker-Schüler

Premiere am Schauspiel Frankfurt: 2. Oktober 20 (Kammerspiele)
Besuchte Vorstellung: 4. Oktober 20

Regie: Christina Tscharyiski
Ausstattung: Verena Dengler, Dominique Wiesbauer
Dramaturgie: Julia Weinreich
Licht: David Schecker

Besetzung:

Die Dichterin: Friederike Ott
Mr. Swet: Wolfgang Vogler
Faust: Matthias Redlhammer
Mephisto 1 / Baal: Florian Mania
Regie: Fenna Benetz
von Schirach: Anna Bardavelidze
Ausstattung: Nina Plagens
Marte Schwertlein / Vogelscheuche: Heidi Ecks
Mephisto 2: Tanja Merlin Graf
Göring / Hitler: John Sander
Goebbels: Uwe Zerwer

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