Augsts & Daemgens verstörend wirkende »Winterreise« im Gallus Theater uraufgeführt

Marcel Daemsgen und Oliver Augst (© textXTND)
kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Albtraumhafte, brachiale Klänge, gespickt mit solchen einer Blechtrommel und gemischt mit elektronischen Verzierungen sowie einem dumpfen Herzschlag im Nachspiel zeichnen das Lied „Die Krähe“ in Oliver Augsts & Marcel Daemges Hörtheater Winterreise aus.

Bereits vor einem Jahr erschien, wie diese Produktion in Kooperation mit dem Deutschlandfunk, eine CD-Aufnahme dieser außergewöhnlichen und radikalen Winterreise. Die jetzt im Frankfurter Gallus Theater uraufgeführte und per Stream übertragene Fassung wurde musikalisch umfangreich erweitert. Streicherklänge kommen „als Verweis zur romantisch-klassischen Musiktradition“ nicht nur als kurze elektronische Einspielungen zu Gehör, sondern von einem kleinen Streichquartett (Rebecca Raimondi, Katharina Sommer, Johannes Warnat und Sylvia Demgenski). Zusätzlich erweitern Julia Bünnagel an Turntables und Jörg Fischer am Schlagzeug die ohnehin schon multiple Klangvielfalt. Erneut leiht Oliver Augst den Texten von Wilhelm Müller seine Stimme. Marcel Daemgen sorgt nicht nur für Live-Elektronik, er ist auch musikalischer Leiter und schuf die Arrangements (Jonathan Granzow die Realisation für Streichquartett).

WINTERREISE Augst Daemgen
Probenbild

© textXTND

Hörtheater für das Anthropozän

Das Duo Augst und Daemgen nennen ihr Projekt „Hörtheater für das Anthropozän“, also für uns heute, die wir alle für unsere globale Welt zum bestimmenden Faktor geworden sind. Wie schon bei anderen Werken von ihnen, dient die Vorlage lediglich als Rohmaterial, dass sie detailliert für eine neuartige Sichtweise nutzen und in elektroakustischer Form neu interpretieren. Eine x-beliebige weitere klassische Aufnahme war von vornherein kategorisch ausgeschlossen worden. Vielmehr haben sie sich gefragt, wie sich Schuberts Liedzyklus wohl heute anhören würde, hätte er ihn jetzt, mit all den aktuellen Eindrücken von Digitalisierung, Klimakatastrophe, Kriegen, Flüchtlingen etc, geschrieben. Der im Text genannte Wanderer irrt und strauchelt bei ihnen durch ein Labyrinth der modernen und aus den Fugen geratenen Welt.

Semantik und Melodie

Sie folgen dabei weitestgehend seinem Text und Augst als Sänger der melodischen Linie. Allerdings ohne Verzierungen und oftmals eher als Sprechgesang wirkend, mit Hall und Verfremdungen (manche Passagen hätte Till Lindemann von der Band Rammstein vermutlich ähnlich interpretiert). Von den 24 Liedern wurden, wie bereits bei der CD-Aufnahme, sechs Lieder ausgelassen, zudem die Reihenfolge etwas geändert. Fesselnd ist die Intensität, mit der Oliver Augst dem Text von Wilhelm Müller nachspürt und wie variantenreich er ihn interpretiert. Er wird freigelegt, wie noch nie zuvor.
Diese Winterreise gleicht einer wilden Achterbahnfahrt. Kaum hat man sich etwas erholt, wird man aus dem bequemen Zuhören herausgerissen. Dabei wird sich auf Semantik und Melodie konzentriert. Eine wahrlich ungewöhnliche Interpretation, ein kraftvoller wie bedrückender und vielseitiger Klangkosmos, frei von romantischen Träumereien und Wohlklängen.

Markus Gründig, April 21


Winterreise

Von: Augst & Daemgen
Mit Texten von: Wilhelm Müller
Nach Musik von: Franz Schubert
Uraufführung: 20. April 2021 (Livestream aus dem Gallus Theater Frankfurt)

Turntables: Julia Bünnagel
Schlagzeug: Jörg Fischer
Streicherquartett:
1. Geige: Rebecca Raimondi
2. Geige: Katharina Sommer
Bratsche: Johannes Warnat
Cello: Sylvia Demgenski
Stimme: Oliver Augst
Musikalische Leitung, Arrangements und Live-Elektronik: Marcel Daemgen
Realisation für Streichquartett: Jonathan Granzow
Assistenz: Greta Katharina Klein:
Grafik: Rahlwespietz
Live-Ton: Norbert Zacharias
Fotos: Vita Spieß
Social Media: Lisa Mayerhöfer
Live-Stream: Sehstern

Weitere Aufführungen am 21. und 22.4.2021, jeweils 20:00 Uhr

Eine textXTND Produktion in Koproduktion mit dem Deutschlandfunk.

Gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst, das Kulturamt der Stadt Frankfurt sowie durch ein Projektstipendium im Rahmen des Förderprogrammes „Hessen kulturell neu eröffnen“ und die Aventis Foundation, Förderreihe „Klangwert“. Projektträger: VIV-International e.V.

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