Viel Sympathie für die alles außer gewöhnlichen Ticser bei »Chinchilla Arschloch, waswas«

Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn ~ Rimini Protokoll / Schauspiel Frankfurt / Künstlerhaus Mousonturm ~ Barbara Morgenstern, Benjamin Jürgens ~ Foto: Robert Schittko

kulturfreak Bewertung: 4 von 5

Zur derzeitigen Debatte um die Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenkassen zum pränatalen Bluttest passt das neuste Stück des Künsterkollektivs Rimini Protokoll (um Helgard Haug) hervorragend, auch wenn durch diesen Test keine Erkrankung am Tourettesyndrom feststellbar ist. Doch es impliziert die Frage, wie die Gesellschaft mit behinderten Menschen umgeht. Die Planungen zu Chinchilla Arschloch, waswas ~ Nachrichten aus dem Zwischenhirn, wie das Stück heißt, reichen viel länger zurück als die aktuellen Diskussionen im Bundestag. Schon im vergangenen Jahr entstand das Hörspiel Chinchilla Arschloch, waswas, ein Roadtrip an die Küste, bei dem Helgard Haug und der Journalist Thilo Guschas den Mediengestalter Christian Hempel mit seiner Tochter begleiteten. Vom niedersächsischen Lüneburg, Haugs Wohnort, bis an die Küste ist es gar nicht so weit, als das dies von einem Fernsehteam dokumentiert werden müsste. Doch Haug hat spezielle Tics, also plötzlich einsetzende Körperbewegungen und Lautäußerungen, die Bestandteil seines Leidens am Tourettesyndrom (einer neurologisch-psychiatrischen Erkrankung, hauptsächlich organischer Art) sind. Und da kann selbst eine einfache Autofahrt zum Problem werden.

Mit Haugs Bereitschaft, sich an mehreren Abenden nun unmittelbar vor großem, möglicherweise voyeuristischem, Publikum auf die Bühne zu stellen, ist er nun noch weiter gegangen. Immerhin ist er bei der als Gemeinschaftsproduktion von Künstlerhaus Mousonturm, Schauspiel Frankfurt und Rimini Protokoll entstandenen Bühnenfassung nicht alleine. An seiner Seite sind die ebenfalls vom Tourettesyndrom betroffenen Benjamin Jürgens und Bijan Kaffenberger, sowie als Musikerin und Moderatorin die emphatische Barbara Morgenstern beteiligt.

Inklusive Theaterprojekte gibt es inzwischen viele. So erarbeitet beispielsweise Martina Droste regelmäßig Jugendtheaterprojekte für das Schauspiel Frankfurt, in Mainz gibt es das Theaterfestival Grenzenlos Kultur (dieses Jahr vom 12. bis 22. September) und mitunter sind auch in Frankfurt/M Menschen mit Behinderung auch auf der Bühne zu erleben (wie Tolga Tekin 2014 an der Seite von der großartigen Valery Tscheplanowa in Wir haben deinen Traum im Mund am Frankfurter Autorentheater oder 2015 in Sebastian Hartmanns Inszenierung von Dostojewskis Die Dämonen im Schauspielhaus. Das Staatstheater Darmstadt ist diesbezüglich Vorreiter in der Region, verpflichtete es doch schon vor Jahren Samuel Koch und Jana Zöll als Ensemblemitglieder. Gerade aus praktischen Dingen ist es vielen Häusern aber nahezu unmöglich, Menschen mit körperlichen Einschränkungen zu engagieren, denn die wenigsten Backstagebereiche sind barrierefrei. Im Zuschauerbereich sieht es auf den ersten Blick besser aus, gibt es doch fast überall zumindest Rolliplätze. Aber ist es damit getan? Wie schafft es beispielsweise jemand mit motorischen Störungen, die ganze Aufführungsdauer über ruhig zu sitzen, sich den geltenden Normen anzupassen? Hier greift die Inszenierung von Helgard Haug (Konzept, Text & Regie) schon im Vorfeld ein. Die Sitzreihen im Bockenheimer Depot sind teilweise unterbrochen und bieten Platz für andere Sitzformen, es kann sich sogar gelegt werden. Als zusätzlicher Service für Menschen mit Einschränkungen gibt es die Möglichkeit, dass sie ihren Platz stressfrei vor allen anderen einnehmen können (wie eine Art bevorzugtes Boarding).


Chinchilla Arschloch, waswas ~
Nachrichten aus dem Zwischenhirn
Rimini Protokoll / Schauspiel Frankfurt / Künstlerhaus Mousonturm
Barbara Morgenstern, Benjamin Jürgens, Christian Hempel
Foto: Robert Schittko

Wie wichtig die Stimmung im Publikum ist, wird zu Beginn gleich von Moderatorin und Musikerin Barbara Morgenstern angesprochen, denn viele Gesichter sind doch noch recht ernst, keiner im Publikum weiß so genau, was die nächsten 90 Minuten passieren wird. Eine ablehnende oder aufgeschlossene Grundhaltung spricht später auch Benjamin Jürgens an. Diese spürt er bei der täglichen U-Bahnfahrt zur Arbeit (er ist seit 15 Jahren als Altenpfleger tätig, daneben aber auch als Musiker und Sänger). Kinder sind ihm die liebsten Mitfahrer, gehen sie doch unbefangener mit seinen Tics um und trauen sich auch, ihn anzusprechen.
Zu Beginn sitzt Jürgens im Publikum, ein Spot ist auf ihn gerichtet, dabei fällt er mit seinen Tics, die er immer nur kurzzeitig unterdrücken kann, auch so schnell auf. Während des Abends ist er fast die ganze Zeit über auf der weißen, zunächst zerstückelten Bühnenlandschaft anwesend (Bühne: Mascha Mazur), die er zu einem großen Ganzen zusammen fügen lässt und sogar über ihr schwebt.

Der Abend ist gut durchgeplant und sehr strukturiert (28 Szenen, deren aktuelle Folge mittels großem Lineal und Lupenausschnitt visualisiert werden). Dennoch haben die Beteiligten alle Freiheit, die sie benötigen. Auch wurden ihre individuellen Bedingungen für ihre Teilnahme (wie zur Beruhigung Cannabis rauchen zu dürfen, Text ablesen zu können oder das Honorar zu spenden) akzeptiert.


Chinchilla Arschloch, waswas ~
Nachrichten aus dem Zwischenhirn
Rimini Protokoll / Schauspiel Frankfurt / Künstlerhaus Mousonturm
Bijan Kaffenberger
Foto: Robert Schittko

In salopper Form erzählen sie, ohne ins Sentimentale zu verfallen, von ihrem Leben mit dem Tourettesyndrom: im Shoppingcenter, am Meer, bei einer Beerdigung und im eigenen Garten. Und zeigen sich dem Publikum mit ihrem Spiel „Wer tict zuerst“ von ihrer humorvollen Seite. Wenn Benjamin Jürgens mit Rücken zum Publikum singt, ist von seiner Krankheits nichts zu spüren. Diese fällt bei jedem unterschiedlich aus. Schon diese drei unterscheiden sich stark. Während der eine keine Streifen mag (dafür aber ein T-Shirt mit Streifen trägt) und deswegen Zebrastreifen meidet (wie auch Aufzüge), beim Musizieren und Singen aber ruhiger wird, lebt ein anderer zurückgezogener (nicht zuletzt, weil es nachbarschaftlichen Ärger aufgrund seiner Erkrankung gab). Erst spät ins Spiel kommt Energiebündel und Frohnatur Bijan Kaffenberger. Der 29-Jährige ist fast zum Gesicht des Tourettesyndroms geworden, geht er doch offensiv damit um und hat keine Probleme, vor Menschen zu sprechen (siehe auch seine Youtube-Kanal Tourettikette). Der junge Politiker (SPD) hielt im März seine erste Rede im Hessischen Landtag (zum Thema Digitalisierung und Netzausbau), seit Kurzem ist er auch Mitglied im Verwaltungsausschuss des Staatstheater Darmstadt.

Haug sensibilisiert mit einem Mix aus Gesprochenem, Gesungenen und Gespielten für von der Norm abweichende Menschen, die für den Mut sich mit ihren Tics einem Publikum zu stellen, mit sehr starkem Applaus belohnt wurden.


Chinchilla Arschloch, waswas ~ Nachrichten aus dem Zwischenhirn
Von: Rimini Protokoll (Helgard Haug)
Schauspielfrankfurt in Koproduktion mit dem Künstlerhaus Mousonturm
Konzept, Text und Regie: Helgard Haug
Premiere/Uraufführung am Schauspiel Frankfurt: 11. April 19 (Bockenheimer Depot)
Besuchte Vorstellung: 12. April 19

Komposition, Musik: Barbara Morgenstern
Bühne: Mascha Mazur
Video: Marc Jungreithmeier
Dramaturgie: Cornelius Puschke
Dramaturgie Künstlerhaus Mousonturm: Anna Wagner
Recherche & Künstlerische Mitarbeit: Meret Kiderlen
Produktionsleitung Künstlerhaus Mousonturm: Olivia Ebert
Produktionsleitung Rimini Protokoll / Touring: Juliane Männel
Assistenz Christian Hempel: Stefan Schliephake
Produktionsassistenz: Desislava Tsoneva

Mit: Christian Hempel, Benjamin Jürgens, Bijan Kaffenberger, Barbara Morgenstern, Stefan Schliephake

www.schauspielfrankfurt.de / www.mousonturm.de / www.hessenticser.de