Staatstheater Darmstadt: Paranoid werdende Wissenschaftler auf der Raumstation Solaris

Solaris ~ Staatstheater Darmstadt ~ Sartorius (Daniel Scholz), Kris Kelvin (Thorsten Loeb), Snaut (Jörg Zirnstein) ~ © Nils Heck

Fast jeder kennt den Titel Solaris. Das Buch des polnischen Philosophen und Schriftstellers Stanislaw Lem (1921 – 2006) selbst oder eine der drei Verfilmungen (Boris Nirenburg 1968, Andrei Tarkowski 1971 und Steven Soderbergh 2002) oder eine der drei Musiktheaterumsetzungen (Michael Obst 1996, Detlev Glanert 2012 oder Dai Fujikura 2015) jedoch nur wenige. Der viele Jahre unter stalinistischer Zensur arbeitende Lem nutzte das Science-Fiction Genre als freien Ort für seine gedanklichen Experimente. Ihm ging es dabei nicht um Utopien und um die spektakuläre Entdeckung ferner Welten, sondern um die Zukunft der Wissenschaft und des Humanismus, um die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Deshalb betrachte er sich selbst auch nicht als klassischer Science-Fiction Autor. Der Roman Solaris zählt, neben Werken wie 20000 Meilen unter dem Meer, Die Zeitmaschine und Krieg der Welten dennoch zu den Meisterwerken der Science-Fiction Literatur und wurde in über 30 Sprachen übersetzt. Es handelt vom Scheitern der Kontaktaufnahme zu fremden Wesen. Die sind hier weder Borgs, Ferengi, oder Klingonen, sondern lediglich eine fremde Materie, eine Art Plasma mit der Bezeichnung „Ozean“, die den Planeten Solaris umgibt. Dort befindet sich eine Forschungsstation, die vom Wissenschaftler Kris Kelvin (wandelbar: Thorsten Loeb) aufgesucht wird. Und er erlebt dort alles andere, als das, was er erwartet hat. So trifft er nur zwei verwirrte Wissenschaftler an und dann taucht auch noch seine ehemalige Freundin auf, die vor 20 Jahren Selbstmord begangen hat, weil er sie verlassen wollte.


Solaris
Staatstheater Darmstadt
Harey (Anabel Möbius)
© Nils Heck

Regisseur Christoph Mehler hat den Roman jetzt in der am Staatstheater Nürnberg 2012 uraufgeführten Theaterfassung von Tim Staffel auf die Bühne der Kammerspiele des Staatstheater Darmstadt gebracht. Jennifer Hörr verwandelte diese dafür in einen Wald voll vertikal herabhängender LED-Röhren. Zusammen mit deren wechselnden Farbspielen und Kunstnebel, von sehr viel Kunstnebel, ist eine passend mysteriös anmutende Grundatmosphäre entstanden, die durch die Musik von David Rimsky-Korsakow unterlegt ist. Am Anfang sind es schlichte Tonfolgen in einer Dauerschleife, die an ein Präludium von Bach erinnern (zum Schluss werden sie kurz wiederholt). Später sind es dann Klanggeräusche, wie ein dräuendes Wimmern. Als Gegenpol zum Science-Fiction-Genre tragen die Wissenschaftler keine Weltraumanzüge, sind eher Gnom (wie der mit einem dunklen Mantel und Kopftuch bekleidete Snaut) oder Clown (wie der im weißen Mäntelchen mit großer Halskrause und gestreifter Zirkushose bekleidete Sartorius; Kostüme: auch Jennifer Hörr).

Dem poetischen mehrminütigen Auftakt, wenn Kybernetiker Snaut (frohgestimmt: Jörg Zirnstein) und der Biochemiker Sartorius (besonnen: Daniel Scholz) über den Boden angekrochen kommen und scheinbar wirres Zeug reden, folgt schon bald ein lautstarker Disput. Und das ist die Krux dieser Inszenierung, es wird sehr viel geschrien. Das ist zwar als Ausdruck der sich in einer außergewöhnlichen Situation befindlichen Wissenschaftler zwar irgendwo verständlich, als Zuschauer fragt man sich dann aber schon, muss das wirklich so sein. Schließlich werden existentielle Fragen des Daseins angesprochen, die durch die äußere Form nicht ihre volle Würdigung erfahren. Im Spiel um die Macht der Vergangenheit, verdrängter Schuld, und ruhelosen Gewissen bleiben die Figuren auf Distanz.
Statt dass der solarische Ozean von den Wissenschaftlern erforscht wird, beeinflusst dieser vielmehr mit Wahn- und Wunschvorstellungen die drei. Allen voran Kris, dessen frühere Geliebte mehrfach in Erscheinung tritt (selbst nachdem sie als unerbetener „Gast“ von der Abschussrampe in den Weltraum katapultiert wurde). Anabel Möbius gibt diese Figur (Harey) mit großer Präsenz und Vehemenz.
Wie in einer Revue ertönen als Erinnerungsmuster Nachrichtenschlagzeilen und Filmmelodien vergangener Jahre und schließlich folgt die Erkenntnis, dass es ohne Tod keine Evolution gibt.

Am Ende der knapp neunzigminütigen Aufführung viel freundlicher Applaus.

Markus Gründig, Mai 19


Solaris
Roman von Stanislaw Lem
Bühnenfassung: Tim Staffel
Uraufführung: 12. Februar 2005 (Nürnberg, Staatstheater Nürnberg)

Premiere am Staatstheater Darmstadt: 16. Mai 19 (Kammerspiele)
Besuchte Vorstellung: 18. Mai 19

Regie: Christoph Mehler
Bühne und Kostüm: Jennifer Hörr
Musik: David Rimsky-Korsakow
Dramaturgie: Oliver Brunner

Besetzung:

Kris Kelvin: Thorsten Loeb
Harey: Anabel Möbius
Snaut: Jörg Zirnstein
Sartorius: Daniel Scholz

www.staatstheater-darmstadt.de