Eric de Vroedts »The Nation I & II« fragt am Schauspiel Frankfurt, spannend verpackt, nach dem gesellschaftlichen WIR

The Nation ~ Schauspiel Frankfurt ~ Ludmilla Bratusek (Altine Emini) ~ Foto: Thomas Aurin

Auf den ersten Blick ist es leicht, den Begriff „Nation“ allgemein als Staatswesen oder Volk zu definieren. Beim genauen Betrachten kommen, ob der großen Heterogenität, schnell Fragen nach der Abgrenzung von Abstammung, Bräuche und Sprache auf, wie auch nach der Bestimmung gemeinsamer Merkmale. Was macht eine Nation aus und wie definiert sie sich? Der niederländische Autor, Regisseur, Schauspieler und Theaterkünstler Eric de Vroedt nutzt in seinem im Jahr 2017 uraufgeführten Stück The Nation eine spannende Kriminalgeschichte als Folie, um Denkanstöße über das Verhältnis von Gemeinschaften zu geben und um Positionen zu finden, die den westlichen demokratischen Sozialstaaten langfristig ein stabiles Fundament sichern. Aus einer Schilderung über den Jetztzustand, folgt die Frage, wer wollen wir sein?

Was sich zunächst abstrakt abhört, wird auf der Bühne zu einem plakativen Spiel mit grotesk anmutenden Zügen. In seiner fiktiven Geschichte geht es um die Suche einem 11-jährigen farbigen Jungen (Ismaël), der unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Er hatte mit einem Steinwurf eine Scheibe der kurz vor der Eröffnung stehenden Halāl Weinbar (ein Widerspruch in sich) seiner Mutter eingeschlagen, kam daraufhin auf eine Polizeistation, von der er aber bereits nach 15 Minuten über eine Hintertür abhauen konnte und ab da nicht mehr gesehen ward, also zunächst. Schnell wird deutlich, dass nichts so ist, wie es scheint. Stiefmutter, Pflegeeltern, Politiker und ein Immobilienmogul, sie alle haben mit dem Verschwinden des Jungen zu tun. In dem kurzweiligen und auf zwei Abende aufgeteilten Stück wechselt Eric de Vroedt ständig die Perspektiven, legt Spuren zur Lösung, die sich alsbald als falsch erweisen. So entstand ein spannender Doppelabend, der zugleich an zeitgemäße Serienformate à la Netflix und Co. anspielt.


The Nation
Schauspiel Frankfurt
Ensemble
Foto: Thomas Aurin

Für die deutschsprachige Erstaufführung konnte das Schauspiel Frankfurt David Bösch für die Regie verpflichten. Bösch ist in Frankfurt kein Unbekannter. Am Schauspiel hat er bereits Lessings Emilia Galotti und Palmetshofer räuber.schuldenreich inszeniert. Für große Bühnenformate hat er nicht zuletzt durch seine Operninszenierung Übung, die er in jüngster Zeit immer öfters realisiert. So inszenierte er an der Oper Frankfurt Wagners Der fliegende Holländer und Verdis Il travatore (und demnächst Verids Nabucco an der Dresdner Semperoper und Nicolais Die lustigen Weiber von Windsor an der Berliner Staatsoper). Der expliziten Einladung des Autors folgend, wurde The Nation auf die bundesdeutsche Realität adaptiert, ohne jedoch einen Bezug zur Stadt Frankfurt zu legen.
Bösch zeigt das Stück auf großer Bühne, mit geöffneten Seiten (lediglich die Hinterbühne bleibt außen vor). Die Handlung spielt auf einer Polizeistation, in einem TV-Studio (Talkshow), in verschiedenen Wohn- bzw. Schlafzimmern, in einem Sitzungszimmer im Landtag (für eine Fraktionssitzung der sozialdemokratischen Partei und für einen Untersuchungsausschuss) und im Büro eines großen Bauunternehmers (Bühne: Patrick Bannwart, Larissa Kramarek). Die Übergänge zwischen den Szenen sind nicht nur hart und schnell, die ganze Inszenierung ist wie ein Film gemacht, mit Breaking-News Einblendungen, Rap-Video-Einlagen (André Meyer als Blogger „Der Bär“) und Livebildern, alles in hoher optischer Kunstfertigkeit (Video: Bert Zander; Live-Video: Benjamin Lüdtke). Während der erste Abend fast schon slapstickartige Züge hat, ist der zweite deutlich ruhiger und etwas kürzer.


The Nation
Schauspiel Frankfurt
Martin Wolff (Heiko Raulin), Jörg van der Poot (Shenja Lacher),
hinten: Rechtsanwältin (Heidi Ecks), Hester Keushma (Claude De Demo), Sadik Babacan (Ramin Yazdani)

Foto: Thomas Aurin

Die Figuren sind prägnant gezeichnet und ob ihrer Vielzahl überwiegend mehrfach besetzt. So ist Heiko Raulin ein gewissenhafter Polizist, wie auch ein skrupelloser und windiger Politiker. Shenja Lacher gibt zunächst einen überforderten Polizisten und dann den Immobilienmogul Jörg van der Poot, der die Nation mit seinem, nicht unumstrittenen, Hightech Projekt „Smart-City“ beglücken will. Sebastian Kuschmann ist als cooler Sonderermittler Mark van Ommeren und als rechtspopulärer Politiker John Landschot zu erleben, Ramin Yazdani als Quotenpolitiker Sadik Babacan und als serbischer Trunkenbold Adem Ahmedovic. Eray Eğilmez hat zwar „nur“ eine Rolle als Stefan Bavert inne, kann sich darin aber als freizügiger Liebhaber und als windiger PR-Berater zeigen. Uwe Zerwer verkörpert gleich drei Figuren: den auf einen schnellen Erfolg pochenden Polizeipräsidenten Bram Geissen, den liberalen städtischen Mitarbeiter und Pflegevater Alexander Aschenbach, sowie den umsichtigen Politiker Robert Ackermann. Samuel Simon gibt dem vermeintlichen Kalifen der Stadt und Aktivist vom Nachbarschafts-Präventions-Team (das auch als Scharia Polizei verschrien ist), Damir Ahmedovic , ein markantes Profil. Erstmals am Schauspiel Frankfurt zu sehen ist neben Shenja Lacher auch Dela Dabulamanzi, hier in der Figur der undurchsichtigen Stiefmutter und freizügigen Muslima Mariam Traoré. Heidi Ecks betört wieder einmal mit ihrem trockenen Humor, sei es als verständnisvolle Ida Aschenbach, als coole Rechtsanwältin oder als ihrer Chefin hinterhertackelnde Politikerin Tina Toorenburg. Claude De Demo glänzt als powervolle TV-Moderatorin Sabine Kuypers, als Hester Keursma und stolze Fraktionsvorsitzende Neele Tromp. Altine Emini, vor 1 1/2-Jahren von der Hochschule ins Ensemble gewechselt, hat sich hier bereits fest etabliert und avanciert als explosive Polizistin Ludmilla Bratusek (plus Stefanie Müller) zum heimlichen Publikumsliebling.

Es sind die starken Bilder (filmisch und szenisch), eine grandiose Ensembleleistung und die auf verschiedenen Ebenen angesprochene Frage, wie das WIR in unserer offenen und multikulturellen Gesellschaft künftig gestaltet sein soll, die stark für diesen Doppelabend sprechen. Ein Spin-Off seitens Eric de Vroedt ist bereits in Arbeit, dann wird man sehen, wie es u. a. mit einem Politiker wie Martin Wolff weitergeht.

Markus Gründig, März 19


The Nation
Schauspiel Frankfurt
Mark van Ommeren (Sebastian Kuschmann), Ludmilla Bratusek (Altine Emini), Damir Ahmedovic (Samuel Simon)
Foto: Thomas Aurin

The Nation I & II

Von: Eric de Vroedt
Deutsch von: Ira Wilhelm
Uraufführung: 5. Juni 2017 (Holland Festival in Koproduktion mit dem Het Nationale Theater, Den Haag)
Deutschsprachige Erstaufführung: 29./30. März 2019 (Frankfurt/M, Schauspiel Frankfurt)


Premiere / Deutschsprachige Erstaufführung am Schauspiel Frankfurt:
29./30. März 19
Regie: David Bösch
Bühne: Patrick Bannwart
Mitarbeit Bühne: Larissa Kramarek
Kostüme: Moana Stemberger
Video: Bert Zander
Musik: Karsten Riedel
Dramaturgie: Alexander Leiffheidt

Besetzung:

Martin Wolff / Thomas Sörensen: Heiko Raulin
Mark van Ommeren / John Landschot: Sebastian Kuschmann
Ludmilla Bratusek / Stefanie Müller: Altine Emini
David Wilzen / Jörg van der Poot / Clown: Shenja Lacher
Damir Ahmedovic / Polizist: Samuel Simon
Mariam Traoré: Dela Dabulamanzi
Sabine Kuypers / Hester Keursma / Neele Tromp: Claude De Demo
Alexander Aschenbach / Bram Geissen / Robert Ackermann: Uwe Zerwer
Ida Aschenbach / Rechtsanwältin /Tina Toorenburg: Heidi Ecks
Der Bär: André Meyer
Sadik Babacan / Adem Ahmedovic: Ramin Yazdani
Stefan Bavert: Eray Eğilmez
Ismael Ahmedovic (Kinderstatisterie): Saeed Queadruogo / Sophonias Amanueol
Live-Video: Benjamin Lüdtke


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