
In einer Pressekonferenz haben Intendant Markus Müller, Generalmusikdirektor Hermann Bäumer, die Chefdramaturgin der Oper Sonja Westerbeck, der Chefdramaturg im Schauspiel Jörg Vorhaben sowie Tanzdirektor Honne Dohrmann heute (6. Mai 22) das Programm der kommenden Saison am Staatstheater Mainz vorgestellt.
Die Konzeption des Spielplans für die Saison 2022/23 am Staatstheater Mainz geschah noch ganz unter dem Eindruck der Coronazeit. Jetzt, da das druckfrische Jahresheft vorliegt, herrscht Krieg in der Ukraine. Die Welt findet sich in der Schnittmenge zweier existenzieller Krisen wieder.
Und in dieser Schnittmenge sucht das Theater nach Wegen für ein richtiges verhalten. Kann an den Themen, die für die kommende Spielzeit als relevant gefunden wurde, festgehalten werden? Kann und soll angesichts der grauenhaften Ereignisse der letzten Wochen ,einfach so* weiter Theater gemacht werden? „Ja“, betont Markus Müller, „wir sind überzeugt, dass wir Kunst und Kultur möglicherweise jetzt sogar mehr denn je brauchen. Und: Nein, das liegt nicht daran, dass wir Lösungen und Antworten zu bieten haben. Wir können kein Virus bekämpfen und wir können keinen Krieg beenden. Ebenso wäre es wohlfeil und unangemessen, nun zu behaupten, die Stoffe der kommenden Saison ständen in inhaltlichem Zusammenhang zum jüngsten schrecklichen Geschehen in Europa – wir werden uns diesem Thema in Sonderformaten und Diskursreihen widmen. Der Respekt vor den vom Krieg direkt Betroffenen und ihrem Leid verbietet, daraus ein Etikett zu machen, das wir an das eine oder andere Stück hängen.“

Spielzeitbuch
© Andreas Etter
Die inhaltlichen Pläne für die kommende Spielzeit sind unter anderen Vorzeichen entstanden und lassen sich auch nicht einfach umdeuten. Aber wenn nach der Sinnhaftigkeit des Tuns gesucht wird geht es möglicherweise gar nicht in erster Linie um konkrete Themen und Stoffe. Vielleicht hat noch kein Theaterstück, kein Gedicht und kein Roman je einen Krieg verhindert.
„Vielleicht geht es viel grundsätzlicher um den Prozess von Kunst. Um die vorsichtig gezeichnete Silhouette eines im gemeinsamen künstlerischen Schaffen entstehenden Freiraums“, unterstreicht Markus Müller, „um eine Methode. Und diese Methode des Denkens, Entwerfens, Fantasierens, Collagierens und Forschens, die Voraussetzung für das Entstehen von Kunst ist, unterscheidet sich wesentlich von dem, was man den Wirklichkeitszwang des Lebens und der Politik nennen könnte. Die Wirklichkeit verlangt schnelle Entscheidungen, rasches Handeln, klare Positionen. Die Kunst bezieht ihre Freiheit daraus, dass sie genau unter diesem Zwang nicht steht. Angesichts einer aktuell zunehmend aggressiven Debatte etwa über den Umgang mit Waffenlieferungen und Sanktionen scheint mir das Theater als Ort der Differenzierung und des achtungsvollen Austauschs eine wichtige Rolle zu spielen.“
Ausgangspunkt der Überlegungen für die Spielzeit 2022/23 war die vorsichtige Freude darüber, nach langen Monaten der körperlichen und sozialen Distanz wieder mehr Nähe zueinander leben zu dürfen. Gesellschaftlich und politisch betrachtet, hat das Denken als mündige Bürger*innen während der letzten zwei Jahre ein Thema besonders geprägt: „Follow Science“ wurde zu einem Glaubensbekenntnis. Als berechtigte leidenschaftliche Forderung im Kampf gegen die Klimakatastrophe. Und als Überschrift über fast allen Debatten zum Umgang mit dem Virus. Doch was bedeutet das eigentlich? Welcher Wissenschaft genau soll gefolgt werden – und ist es wirklich so, dass Expert*innen auf die drängenden Fragen Antworten haben, die nur noch in Handlungen umgesetzt werden müssen?
„Interessanterweise verhält sich die Begeisterung für Wissenschaft und Expertentum, aus der moralische Entlastung versprochen wird, gegenläufig zur Geistesgeschichte. Denn schon seit dem berühmten Satz von Sokrates „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ und allerspätestens seit der Aufklärung ist bekannt, dass Wissenschaft – und damit ist nicht nur die Philosophie gemeint – dafür da ist, Fragen zu stellen, Querverbindungen aufzuzeigen. Skepsis und Vorsicht waren einmal ihr Wesen. Wir können uns nicht einfach selbst entlassen aus der Verantwortung, das Eigentliche hinter den Fakten zu suchen, Informationen miteinander in Beziehung zu setzen und schließlich: eine eigene Haltung zu entwickeln. Das ist herausfordernd, oft strapaziös und langsam. Zu langsam für die Geschwindigkeit, mit der wir entscheiden müssen. Die Nadel tanzt oft auf unserem inneren Kompass, ohne erkennbar eine klare Richtung vorzugeben.
Uns bleibt vor diesem Hintergrund die Verpflichtung, die Freiheit des Theaters zu leben und die Freiheit grenzenlosen Denkens. Wir wollen Räume bieten für eine kooperierende Öffentlichkeit, national und international, mit unseren Projekten zum jungen europäischen Theater und dem Future Laboratory ebenso wie mit unserer internationalen Compagnie von tanzmainz.
Und zugleich können wir erkennen, welch unermesslicher Wert es ist, dass wir all das (noch) haben: Kunst, Theater, die Möglichkeit in Freiheit und Frieden zusammen kreativ zu sein, an einem Ort, an dem Herkunft und Nation keine Rolle spielen. Gerade jetzt ist es wichtig, unsere grenzüberschreitende, widersprüchliche und komplexe, sperrige und wunderschöne Kultur zu leben und als Ausdruck der Freiheit zu feiern. Der Spielplan am Staatstheater Mainz bietet hierfür zahlreiche Gelegenheiten.“ (Staatstheater Mainz)

Hermann Bäumer, Honne Dohrmann, Markus Müller, Sonja Westerbeck, Jörg Vorhaben
© Andreas Etter
SCHAUSPIEL
Die Frage, wie Staat und Wissenschaft zusammenarbeiten, spiegelt sich im Programm des Schauspiels. Wie sehr dürfen Erkenntnisse der Wissenschaft vom Staat genutzt werden, um uns zu kontrollieren? Wie transparent sind die Vorgänge und inwiefern können wissenschaftliche Erkenntnisse auch gegen uns benutzt werden?
In der Eröffnungsproduktion Der staubige Regenbogen von Hans Henny Jahnn (Inszenierung: Rieke Süßkow) geht es um die destruktiven Folgen des Fortschritts für die Umwelt und darüber hinaus um die Frage, wie unabhängig „die Wissenschaft“ eigentlich ihre Erkenntnisse gewinnen und vermitteln kann. Die Laborantin (Inszenierung: Fabio Godinho) wagt sich an die schwierigen ethischen Fragen der Genforschung, A Family Business (Inszenierung: Lekan Lawal) handelt von den ganz konkreten Auswirkungen globaler atomarer Rüstung auf uns Menschen und Anna Seghers´ Transit (Inszenierung: Brit Bartkowiak) ist eine komplexe Auseinandersetzung damit, wie schwer es uns fällt, selbst (oder gerade) unter größtem Druck Entscheidungen zu treffen.
Familien sind der Mikrokosmos, der während der Coronazeit besonders unter Druck stand und auch heute noch steht. Stücke wie Anna Karenina (Inszenierung: Alexander Nerlich), Das wirkliche Leben (Inszenierung: Milena Mönch), die Produktion im justmainz-Programm für Menschen ab sechs Jahren Oma Monika- was war? (Inszenierung: Ebru Tartici Borchers) befragen diese kleinste und vielleicht nur scheinbar private Einheit unserer Gesellschaft. Gibt die Familie Halt oder ist sie eine überholte Zwangsgemeinschaft, aus der man sich befreien muss?
Diesen und vielen anderen Produktionen ist gemeinsam, dass sie das Publkum nicht mit einer einfachen Antwort aus dem Abend entlassen, sondern uns provozieren, in verschiedene Richtungen auf einmal zu denken.
Natürlich gibt es auch in der kommenden Spielzeit auf den Unterhaltungspositionen Anregendes zu erleben:
Jan Friedrich, der in dieser Spielzeit die wunderbare Produktion Glaube Liebe Hoffnung inszenierte, kehrt zurück ins Kleine Haus und führt Regie bei Molières Der Menschenfeind. lm Großen Haus kann sich auf Christian Brey gefreut werden, der erneut in Mainz arbeiten wird und das skurril-charmante Musical Der kleine Horrorladen in Szene setzten wird. Im Unterhaltungsbereich durchaus richtig verortet, spiegelt Benedict Wells Coming-of-Age-Geschichte Fastgenial (Inszenierung: Leonardo Raab) zugleich das Thema Wissenschaft als auch das Thema Familie.
Im reichhaltigen Programm der Wiederaufnahmen finden sich mit Bertolt Brecht, Friedrich Dürrenmatt, Johann Wolfgang von Goethe und Rainer Werner Fassbinder viele (moderne) Klassiker – weiterhin ist die Anzahl an Produktionen so hoch, dass das Publikum vor einer vielfältigen Theaterauswahl steht.
Das gilt auch für das junge Staatstheater justmainz: Es wird unter anderem Krabat, Timm Thaler sowie Mats und Milad wiederaufgenommen – und mit Michael Endes Der satanarchäuliigenialkohällische Wunschpunsch (Inszenierung: Jule Kracht) kommt als Familienstück ein hochbeliebtes Kinderbuch auf die Bühne im Großen Haus.
MUSIKTHEATER
Die Oper schlägt in der kommenden Saison einen Bogen über verschiedene Epochen und gibt musikalische und ästhetische Anregungen, über Fantasie, Fakten und die eigene Urteilskraft nachzudenken.
Bekanntes und neu zu entdeckendes Musiktheater werden miteinander verwoben. Nachhaltig aktuelle Themen mit Musik von vor 200 Jahren sind so universell, dass sie aus der Vergangenheit in zeitgenössisches Musiktheater herüberklingen. Beschirmt von diesem großen Bogen wird jeweils der Mensch in den Mittelpunkt gestellt, seine Fragen, seine Ängste, sein Lebenswille und seine Gefühlswelten – sei es in einer engen Verquickung von Emotionen wie in der Eröffnungsproduktion Cosi fan tutte (Musikalische Leitung: Daniel Montane, Inszenierung: Cordula Däuper) oder in universelleren Kontexten wie in den durch Montezuma und Cortèz personifizierten Herrschersystemen bzw. Weltsichten von Wolfgang Rihms Die Eroberung von Mexico (Musikalische Leitung: Hermann Bäumer, Inszenierung: Elisabeth Stöppler), das nach dem Grundsätzlichen hinter den vermeintlichen historischen Tatsachen sucht und das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Weltanschauungen reflektiert.
Stephen Sondheim ist einer der versiertesten Musicalkomponisten überhaupt. Sweeney Todd erzählt eine groteske Story des dämonischen Barbiers aus der Londoner Fleetstreet nach der Gothic Novel aus dem 19. Jahrhundert und strotzt nur so vor schwarzem Humor und eindrucksvoll-unterhaltsamen Figuren (Musikalische Leitung: Samuel I-Iogarth, Inszenierung: K.D. Schmidt).
Im Dickicht (Musikalische Leitung: Peter Rundel, Samuel I-Iogarth, Inszenierung: David Hermann), eine Koproduktion mit den Schwetzinger SWR Festspielen, reflektiert das Spielzeitthema auf besondere Weise und stellt ganz konkret in einer Gerichtsverhandlung die Frage, ob sich Wahrheit rekonstruieren lässt, wie viel Wert Zeugenschaft hat- und ob Augen und Ohren überhaupt getraut werden können.
Alexander Nerlich wird Salome von Richard Strauss inszenieren (Musikalische Leitung: Hermann Bäumer). Radikales Begehren trifft hier auf radikale Askese. Die Oper zeichnet Psychogramme zügelloser Wollust, hitzig aufgeladener Gefühlswogen, aber auch seelischer Abgründe und erschreckender Gefühlskälte – ein großer Stoff im Großen Haus.
Auch in der Oper stehen selbstverständlich mit den Wiederaufnahmen von Fish forward, Zählen und Erzählen sowie der mobilen Produktion Klangjäger wieder Stücke für das junge und jüngste Publikum auf dem Programm. Und mit der Oper Peter Pan von Richard Ayres wird im Kleinen Haus Fantastisches für die ganze Familie gespielt werden. In Peter Pan sprengen Menschen – Kinder! – die Grenzen und finden sich in einer Fantasiewelt wieder. Dabei versucht der Titelheld, sich das Wichtigste zu bewahren: das Kindsein. Auch aufgrund der Corona-Krise waren sehr viele Kinder noch nie im Musiktheater. Bewusst richtet sich darum diese zeitgenössische Oper mit ihrer überbordenden Klangwelt an alle Familien und Schulklassen.
TANZMAINZ
Der Tanz erobert nach dem Schauspiel und der Oper in der kommenden Spielzeit ebenfalls das Leibniz-Zentrum für Archäologie: Roy Assaf choreografiert mit dem Ensemble von tanzmainz eine Uraufführung unter dem für ein Museum sinnigen Titel Please don‘ t touch the art piece. Assaf ist dem Mainzer Publikum durch seine wunderbar spielerische Arbeit Nothing bekannt. Er ist ein Künstler, der sich mit hoher Kreativität auf die Menschen und Orte einlässt, mit denen er genau in dem Moment arbeitet, es dürfte also spannend werden, welche tänzerischen Welten er in dem ungewöhnlichen Raum im Leibniz-Zentrum entstehen lässt.
Welcome Everybody wollte das Staatstheater Mainz gemeinsam mit tanzmainz schon vor zwei Jahren rufen – endlich ist es so weit! Der Choreograf Pierre Rigal, gebürtig aus Frankreich, ist ehemaliger Leichtathlet und Quereinsteiger in der Tanzszene. In Welcome Everybody kreiert er eine Verbeugung vor der Vielfalt des Theaters und seiner Mittel, auf überraschende Weise bekommt alles und jede*r einen großen Auftritt auf der Bühne des Großen Hauses!
Guy Weizmann und Roni Haver sind langjährige Wegbegleiter*innen und sie werden in der kommenden Spielzeit wieder am Staatstheater Mainz und mit dem Ensemble von tanzmainz arbeiten. Der Titel ihrer Uraufführung steht noch nicht fest. Sicher aber ist, dass die ungewöhnliche Bildhaftigkeit ihrer Arbeiten und ihr feines Gespür für gesellschaftliche und politische Themen einen spannenden Tanzabend erhoffen lassen.
tanzmainz hat in den vergangenen Jahren bis heute eine rasante Entwicklung genommen. Ausverkaufte Vorstellungen und stehende Ovationen, zahlreiche internationale Gastspiele ebenso wie der in Kürze kommende Tanzkongress spiegeln eine Erfolgsgeschichte, deren Schwung in die kommende Spielzeit übernommen werden soll. Das große tanzmainz festival steht im Frühjahr 2023 dafür – und für die unbändige Freude, wieder mit internationalen Gästen in Mainz ein Tanz- und Theaterfest feiern zu können.
Ab sofort liegt das neue Jahresheft 2022/23 im Staatstheater aus und kann online auf der Website des Theaters digital gelesen und durchgeblättert werden. Die Fotostrecke im Spielzeitheft hat Andreas Etter künstlerisch umgesetzt. „Es war uns wichtig, in diesem Jahr möglichst viele Mitarbeiter*innen zu zeigen, gemeinsam mit den Ensembles. Als Ausdruck großer Wertschätzung für das, was die Kolleg*innen geleistet haben, für ihren wunderbar widerständigen Willen, auch unter schwierigsten Bedingungen weiter Theater zu machen. Zugleich drücken die Bilder aus, was uns verwirrt. Zum einen können wir einander wieder körperlich nah sein, wir wollen und suchen Berührung. Zum anderen aber sind viele von uns noch eingesponnen in den Kokon, der sich aus der Einsamkeit der Quarantäne, der Angst vor der Krankheit und den Sorgen uın die Zukunft gebildet hat. So sind wir eng beieinander und bei aller scheinbaren Intimität doch noch sehr für uns – und das sieht man uns an.„
staatstheater-mainz.de