Augst und Friedmann mit »Was werd‘ ich Armer dann sagen« im Stadtraum Frankfurt/M

© TEXTxtnd

Oliver Augst und Reto Friedmann – eine Person, zwei Persönlichkeiten – gehen für sieben Jahre auf Wanderpredigt. Sie reisen durch sieben Städte von Frankfurt bis Luzern und treffen dort auf Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Lust, Gier und Neid. Tanzend, singend und streitend treten sie in den Fußgängerzonen auf und halten den bissigen Kommentaren ihrer Mitmenschen stand.

Reto Friedmann ist Stiftungsprofessor für „Interpretatorische Praxis und Vermittlung neuer Musik“ an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Frankfurt im Wintersemester 2023/24 und stellt sich mit diesem Projekt den Menschen vor Ort persönlich vor, indem er erst mal raus geht zu ihnen auf die Straßen und Plätze …

Der Ansatz von Bertold Brecht und Kurt Weill, den Stoff der sieben Todsünden als sozialkritisches, etwas harmloses Gaunerinnenstück zu aktualisieren, zielte womöglich an der damaligen gesellschaftlichen und politischen Realität vorbei. Ihrer am 7. Juni 1933 im Pariser Exil uraufgeführten Oper »Die sieben Todsünden« war jedenfalls zunächst kein Erfolg beschieden.

1933, das Jahr der Machtergreifung Hitlers, war ein Schicksalsjahr. 90 Jahre später stehen wir mit den sich kumulierenden Krisen erneut an einer Schwelle mit ungewisser Aussicht. Für eine künstlerische Bearbeitung der sieben Todsünden ergeben sich daraus spezifische inhaltliche und formale Fragen.

»Was werden wir nur unseren Kindern sagen?« Diese rhetorische Frage aus der Zeit der Friedens- und Ökobewegung in den 70er und 80er-Jahren verwies auf die möglichen Konsequenzen von Kaltem Krieg und Umweltzerstörung sowie auf die diesbezügliche Verantwortung der damaligen Generation. Im Grunde genommen handelte es sich dabei um die säkularisierte Frage des Hymnus »Dies irae« (Tag des Zorns), der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts in der katholischen Totenmesse gesungen wurde: »Was werd‘ ich Armer dann sagen?«. Die einstige Rechenschaft vor Gott beim Jüngsten Gericht wird zur diesseitigen Rechenschaft gegenüber der nächsten Generation. Beiden gemeinsam ist die apokalyptische Dimension.

Über diesen Ansatz des Säkularen hinaus denkt der Philosoph Jürgen Habermas in seiner Theorie zum postsäkularen Zeitalter. Er fragt, wie die moralischen Grundlagen für das gute Zusammenleben in eine Zeit hinübergerettet werden können, in der die religiösen Wurzeln des Säkularen nicht mehr verstanden werden.

Augst und Friedmann schlagen einen anderen Weg ein. Mit der Frage ohne Fragezeichen «Was werd‘ ich Armer dann sagen» gehen die beiden Künstler als Brechts Anna I und Anna II für sieben Jahre auf Wanderpredigt. Sie reisen durch sieben Städte von Frankfurt bis Luzern und treffen dort auf Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Gier und Neid. Tanzend, singend und streitend treten sie in Fußgängerzonen auf und halten den bissigen Kommentaren ihrer Mitmenschen stand.

Nonchalant wie 1983 der Künstler David Hammons, der in seiner Performance »Bliz-aard Ball Sale« auf einem Markt in New York säuberlich nach Größe geordnete Schneebälle verkaufte, stehen Augst und Friedmann auf Plastikkisten und sprechen und singen unbeirrt von den sieben Todsünden und der ultimativen Frage vor dem Jüngsten Gericht. Damit erzeugen sie zunächst ein Bild. Ein befremdliches Bild. Denn das Geschehen lässt sich nicht in bekannte Kategorien einordnen. Im Unterschied zu Straßenmusiker/innen nehmen sie kein Geld an, und im Gegensatz zu Sektenprediger/innen verkünden sie keine klare Botschaft. Ganz im Gegenteil: Ihre Performance erzeugt Spannungen, Widersprüche und Brüche.

Mit dem Format der Wanderpredigt schaffen sich Augst und Friedmann ein neues Instrument für ihre künstlerische Arbeit als Duo. Ohne schützenden Kulturbetrieb mit Bühne, Beleuchtung und Eintritt, einzig die Kisten als Sockel nutzen sie, setzen sie das Publikum einem absichtslosen Tun mit unverdaulichen Brocken aus. (Reto Friedmann)


Was werd‘ ich Armer dann sagen

Worte, Gesänge, Stimmen zu den sieben Todsünden nach Brecht/Weill

Von: Augst und Friedmann
Text, Sprache, Gesang: Reto Friedmann
Komposition, Sprache, Gesang: Oliver Augst
Wissenschaftliche Begleitung: P. Dr. Christian M. Rutishauser SJ
Assistenz: Jörg Fischer

Frankfurt am Main
Donnerstag, 22. Juni 2023
14.00 Uhr hinter der Galerie an der Schirn
17.00 Uhr in der Hedderichstraße in Sachsenhausen

Freitag, 23. Juni 2023
18.00 Uhr am Willy-Brandt-Platz
20.00 Uhr auf der Zeil

Samstag, 24. Juni 2023
11.00 Uhr im Durchgang an der Staufenmauer bei der Konstablerwache
17.00 Uhr bei der Louis-Appia-Passage im Ostend
20.00 Uhr neben dem Kaiserdom

Eine Koproduktion von textXTND und Reto Friedmann
Gefördert durch: Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main, Musikfonds e. V. sowie durch ein Stipendienprogramm im Rahmen von NEUSTART KULTUR

textxtnd.de