Augst & Daemgen CD-Release: »1945 before/after«

Oliver Augst und Marcel Daemgen (Foto: V. Spiess)

Augst & Daemgen veröffentlichen ihr neues Album 1945 before/after digital auf allen bekannten Download- und Streaming-Portalen und als CD in limitierte Auflage von 150 Exemplaren. Dieses ist bereits die 7. Koproduktion mit dem Deutschlandfunk. Dieses Mal mit dabei die Pariser Pianistin Sophie Agnel.

Am 12.10.2024 gab es ein Release-Konzert in der Walkmühle, Wiesbaden. Neben Sophie Agnel war auch der Wiesbadener Schlagzeuger Jörg Fischer mit auf der Bühne.

Zu hören und sehen unter ist das Konzaert auf YouTube: youtube.com
Das komplette CD Album ist auch zu hören unter: youtube.com


Oliver Augst und Marcel Daemgen interpretieren Lieder und Schlager aus der Zeit vor und nach 1945. Nach 25 Jahren und neun CD-Alben mit deutschsprachigen Liedern zur Emigration und Widerstand in Koproduktion mit dem Deutschlandfunk handelt es sich dieses Mal um Lieder der Angepassten und Mitläufer aus der Zeit des Nationalsozialismus und im Wirtschaftswunderland der deutschen Nachkriegszeit.

Bei Augst & Daemgen geht es nicht um eine möglichst originalgetreue oder gar nostalgische Nachbildung alter Vor- und Nachkriegsschlager, sondern vielmehr um eine musikalische Reflexion, eine seziergenaue Untersuchung des Knochenbaus dieser Musik und deren Texte aus dem Blickwinkel des Hier und Heute.
Improvisatorisch, mit experimentellen Formen bis hin zu punktgenauen Arrangements verfremden sie z. B. „Ein Lied geht um die Welt“ oder „Davon geht die Welt nicht unter“… bis zur Kenntlichkeit!
Stilistisch zwischen Neuer Musik, Improvisation und Pop entstehen „neue alte Lieder“, verstörend, dunkel, schön und manchmal auch tanzbar.

Lieder von 1933-1945

Viele der Lieder und vor allem die Schlager aus der Zeit des Nationalsozialismus haben scheinbar ganz selbstverständlich Eingang in das musikalische Repertoire der deutschen Nachkriegszeit bis heute gefunden. Lieder wie „So oder so ist das Leben“, „Nur nicht aus Liebe weinen“ oder „Kauf dir einen bunten Luftballon“ in Nazi-Deutschland wurden zum großen Teil in den letzten Kriegsjahren geschrieben und sehr erfolgreich vermarktet. Deren Musik ist nicht marschmäßig banal, sondern musikalisch auf durchaus hohem künstlerischem Niveau, sie enthalten keine plumpe Nazi-Propaganda, sondern tiefgründig anmutende Texte, besonders im Vergleich zu Schlagern aus der heutigen Zeit. Sind sie also eigentlich nicht nur „unschuldiges“, sondern sogar erhaltenswertes deutsches Liedgut?

Bei genauerem Hinsehen fällt aber auch auf, dass diese gekonnt vertont und vordergründig harmlosen Botschaften der perfiden Absicht der nationalsozialistischen Machthabern entsprang, das geneigte Publikum zu zerstreuen und ruhigzustellen, um von der immer düster werdenden Realität abzulenken. Den MitläuferInnen und WegschauerInnen sollte vorgegaukelt werden, dass die Welt in Deutschland entgegen allem anderslautenden Geflüster doch in allerbester Ordnung sei.

Mit dem Wissen, dass der heute immer noch beliebte, von Zarah Leander gesungene Schlager „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ aus dem Jahre 1942 stammt, erhält dessen Kernaussage eine ganz explizite Bedeutung. Die deutsche Wehrmacht hatte zu dieser Zeit in Russland bereits große Verluste erlitten und der Niedergang des deutschen Imperialismus zeichnete sich immer deutlicher ab. Zudem erfreut sich Zarah Leander auch im Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart einer immer noch großen Popularität, obwohl sie bis 1942 in Deutschland eine große Film- und Gesangskarriere machte und von Hitler und Goebbels sehr geschätzt wurde.

Sie sang 1942 auch das Lied „Davon geht die Welt nicht unter“. Die Texte beider Lieder schrieb der homosexuelle Bruno Balz während oder kurz nach seiner Folter-Haft im Gestapo-Hauptquartier – ihm drohte das Konzentrationslager. Erst durch die Intervention seines Mitautors Michael Jary, der vorgab, die von Goebbels für den Film geforderten Lieder als einen „Beitrag zur Kriegsanstrengung“ ohne die Hilfe seines Partners nicht zustande bringen zu können, kam Balz wieder frei.

Die Sängerin Hildegard Knef sorgte zusätzlich dafür, dass diese Lieder der gleichgültigen deutschen Nachkriegsgesellschaft ein willkommener Trost für die tief empfundenen unwillkommenen Veränderungen in Deutschland waren.

Wahn und »Entwirklichung« ließen die Deutschen schließlich die Niederlage als »Zusammenbruch« erleben. »Die Befreiung von der Hitler-Diktatur wurde seelisch nicht gewollt.«(Hans Dieter Schäfer, in »Das gespaltene Bewusstsein) 

Lieder der deutschen Nachkriegszeit

Die deutsche Nachkriegszeit der 1950er und 1960er-Jahre war dann geprägt vom Aufbruch in eine neue bessere Zukunft. Wirtschaftswunderland. Nach vorne schauen, nicht zurück, und wenn, dann um die erlebte „Ungerechtigkeit“ an Deutschland die Bombenangriffe der Alliierten zu beklagen.

Dem alten deutschen Volkslied „Heile heile Gänsje“ ließ der singende Dachdecker Ernst Neger noch eine weitere Strophe hinzufügen:

Wär‘ ich einmal der Herrgott heut‘,
dann wüsste ich nur eins:
Ich nähm‘ in meine Arme weit
Mein arm‘ zertrümmert Mainz.
Und streichelte es sanft und lind
Und sagt: „Hab doch Geduld.
Ich bau‘ dich wieder auf geschwind.
Du warst ja gar nicht schuld.“

In der Mainzer Fastnachtssitzung wurde dazu hemmungslos geweint.

„Meine Mutter sagt: Ich bin ja normal.
Adorno sagt: Normal ist der Tod.“ (O. Augst)

Die Volksmusik verkam während der Nazi-Zeit zum Propagandainstrument, es war kein Leben mehr in ihr. Nach dem Krieg brauchte sie Jahre, um sich zu erholen. Was rasch wieder erklang, waren volkstümelnde Blasmusik, Dirndl-Schlager und Schunkellieder – Gute-Laune-Musik, die Schuld und Not vergessen half. Die Generation, die in dieser Zeit ihre musikalische Prägung erhielt, verlebt bis heute gern gemütliche Fernsehabende in öffentlich-rechtlichen Musikantenstadln. Der kategorische Imperativ dieser Sorte sogenannter Volksmusik heißt „Herzilein, Du darfst nicht traurig sein.“

Zerstreuung und Gleichgültigkeit ist seit 1945 hier das Programm.

Hannah Arendt notierte während eines Deutschlandbesuches im Jahr 1946:

Überall fällt einem auf, dass es keine Reaktionen auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine bewusste Weigerung oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Die Gleichgültigkeit, mit der sich die Deutschen durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert.“

Augst & Daemgens Neu-Interpretationen: Schönheit ohne Beschönigung.

Hier setzen Oliver Augst und Marcel Daemgen mit ihren Neu-Bearbeitungen dieser Lieder an. Mit dem Wissen über deren Herkunft und aus welcher Absicht sie in Auftrag gegeben wurden, ist es beiden nicht möglich, sie einfach nur schön und ergreifend nachzuspielen.

Oliver Augst: Die Arbeit an den Liedern basiert auf einem GrundMisstrauen meiner deutschen Eltern/Großeltern-Generation gegenüber. Wie die alten Nazis unter dem Deckmantel der Spießbürgerlichkeit und Verständnisheischerei versuchten, ihre Lebenswahrheiten in Legenden umzuschreiben. „Wir haben ja von nichts gewusst“, „Wir konnten ja nichts machen“, „Ich bin unschuldig, ich hätte ja gerne etwas getan, aber was kann schon der Einzelne tun gegen die da oben, dann hätte man mich ja auch ins KZ geschickt“.

In den Neubearbeitungen dieser Lieder soll deren monströse Herkunft erfahrbar werden. In dem Moment, wo sie gefallen könnten, müssen sie an die Finsternis der deutschen Vor- und Nachkriegszeit erinnern. Nicht mehr und nicht weniger.

4. Titel

Die CD beinhaltet folgende Titel, die in einer eigens gestalteten Form nicht nur wie üblich als Abfolge hintereinander, sondern teilweise ineinander „komponiert“ Beziehung zueinander herstellen, sich abgrenzen oder zueinander gewandt Übergänge ermöglichen, und Verbindungen aufnehmen.

1. Wenn ich mir was wünschen dürfte (1930)
Friedrich Hollaender (lyrics, music)
Sophie Agnel (piano), Oliver Augst (voice, arrangement)

2. So oder so ist das Leben (1934)
Hans Fritz Beckmann (lyrics), Theo Mackeben (music)
Oliver Augst (voice), Marcel Daemgen (electronics, backing vocals, arrangement), marburgjazzorchestra*

3. Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n (1942)
Bruno Balz (lyrics), Michael Jary (music)
Sophie Agnel (piano), Oliver Augst (voice, arrangement)

4. Es geht eine helle Flöte (1938)
Hans Baumann (lyrics, music)
Oliver Augst (voice), Marcel Daemgen (electronics, arrangement), marburgjazzorchestra*

5. Auferstanden aus Ruinen (1949)
Johannes R. Becher (lyrics), Hanns Eisler (music)
Sophie Agnel (piano), Oliver Augst (voice, arrangement)

6. Wenn Mutti früh zur Arbeit geht (1951)
Kurt Schwaen (lyrics, music)
Sophie Agnel (piano), Oliver Augst (voice, arrangement)

7. Davon geht die Welt nicht unter (1942)
Bruno Balz (lyrics), Michael Jary (music)
Oliver Augst (voice), Marcel Daemgen (electronics, arrangement)

8. Musik ist Trumpf (1961)
Kurt Feltz (lyrics), Heinz Gietz (music)
Oliver Augst (voice, big-band arrangement), Marcel Daemgen (electronics, arrangement), marburgjazzorchestra*
Jonathan Granzow (big-band notation)

9. Heile, heile Gänsje (1929/1952)
Martin Mundo/Robert Wasserburg (lyrics), Georg Zimmer-Emden (additional verse), Martin Mundo (music)
Oliver Augst (voice, big-band arrangement), Marcel Daemgen (electronics, arrangement), marburgjazzorchestra*
Jonathan Granzow (big-band notation)

10. Das Lied ist aus (1930)
Walter Reisch, Armin L. Robinson (lyrics), Robert Stolz (music)
Sophie Agnel (piano), Oliver Augst (voice, arrangement)

11. Auf meinem Konto steht das Komma zu weit links (1956)
Peter Ström/Peter Ballerstaedt (lyrics), Hans Carste (music)
Oliver Augst (voice, big-band arrangement), marburgjazzorchestra*
Jonathan Granzow (big-band notation)

12. Mutter, hast du mir vergeben? (1964)
Marlene Dietrich (lyrics), Czeslaw Niemen (music)
Sophie Agnel (piano), Oliver Augst (voice)
Marcel Daemgen (arrangement)

13. Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da (1938)
Otto Ernst Hesse (lyrics), Theo Mackeben (music)
Oliver Augst (voice), Marcel Daemgen (electronics, backing vocals, arrangement, )

14. Ein Lied geht um die Welt (1933)
Ernst Neubach (lyrics), Hans May (music)
Sophie Agnel (piano), Oliver Augst (voice, arrangement)

15. Er heißt Waldemar (1940)
Bruno Balz (lyrics), Michael Jary (music)
Oliver Augst (voice), Marcel Daemgen (electronics, backing vocals, arrangement)

16. Kann denn Liebe Sünde sein? (1938)
Bruno Balz (lyrics), Lothar Brühne (music)
Oliver Augst (voice), Marcel Daemgen (electronics, backing vocals, arrangement)

17. Das gibt’s nur einmal (1931)
Robert Gilbert (lyrics), Werner Richard Heymann (music)
Sophie Agnel (piano), Oliver Augst (voice, arrangement)

18. So ein Tag, so wunderschön wie heute (1952)
Walter Rothenburg (lyrics), Lotar Olias (music)
Oliver Augst (voice, big-band arrangement), Marcel Daemgen (electronics, backing vocals,arrangement), marburgjazzorchestra*
Jonathan Granzow (big-band notation)

19. Kauf dir einen bunten Luftballon (1943)
Lyrics: Aldo von Pinelli (lyrics), Anton Profes (music)
Oliver Augst (voice, piano, arrangement)


Augst & Daemgen: 1945 davor/danach

Lieder der Mitläufer und Angepassten
CD
mit Sophie Agnel (Piano), marburgjazzorchestra*
Deutschlandfunk
Veröffentlichung am 12.10.2024
Bestellungen: info@textxtnd.de
Info: textxtnd.de
Hören: youtube.com
Musik-Video: youtube.com
Live-Konzert: youtube.com