Annika Haller inszeniert »Der Freischütz« an der Oper Chemnitz

© Albrecht Fietz auf Pixabay

Mit Webers „Freischütz“ kommt eine der großen Repertoire-Werke auf die Bühne des Chemnitzer Opernhauses. Vor über zweihundert Jahren verhalf das Werk der romantischen deutschen Oper zum Durchbruch und avancierte zum exemplarischen Nationalkunstwerk.

Die Aufführungsgeschichte der letzten Jahrzehnte brachte hingegen immer wieder überraschende Neuinterpretationen hervor, die aus dem Reichtum des Stoffes schöpfen konnten.

Die Protagonist:innen bewegen sich in einem Feld, in dem korrumpierende dämonische Kräfte und rettende göttliche Mächte auf sie einwirken. Sozialer Druck, materielle Abhängigkeit und metaphysische Verzweiflung treiben sie um, und nicht zuletzt spielt die traumatisierende Gewalt des Krieges eine Rolle.

Carl Maria von Weber führte die Gegensatze zu einem in sich geschlossenen musikalischen Kunstwerk zusammen und schuf einen romantischen Klang, der auf die Tiefen der Seele zielte. Regisseurin Annika Haller erzählt den „Freischütz“ als Kriminalgeschichte und Psychodrama. Wie ein „Tatort“ hält ihre Erzählung die Waage zwischen spannender Unterhaltung und Bezug zu brisanten Themen der Gegenwart.

Die Geschichte

Für Max verengt sich sein gesamtes Leben zu einem alles entscheidenden Moment. Trifft er beim „Probeschuss“, gewinnt er Agathe und erringt den Posten, der beider Zukunft sichern kann. Schießt er daneben, verliert er alles – ein Druck, dem er nicht standhält. ln seiner Verzweiflung lässt er sich auf einen dämonischen Handel ein. Kaspar, ein früherer Soldat, der ein finsteres Geheimnis in sich trägt, weiß dem Freund ungeahnte Kräfte zu verschaffen.

Doch die grenzüberschreitende Erfahrung, die Max dafür auf sich nehmen muss, korrumpiert sein inneres. Beim Probeschuss schickt er die Kugel in Richtung Ziel, der Ausgang der Prüfung aber wird auf anderer Ebene entschieden. Die entfesselten zerstörerischen Kräfte fordern zu einer Antwort im Sinn von Recht und Menschlichkeit heraus. Von ihr wird am Ende auch die Liebe von Agathe und Max abhängen.

Zur Inszenierung

Regisseurin Annika Haller siedelt die „Nationaloper“ in einer Gruppe an, die sich der Verteidigung einer ethnisch und kulturell deutschen Identität gegen vermeintlich bedrohliche, fremde Einflüsse verschrieben hat. Die Versammlung, die wir sehen, verrät nicht unbedingt das Gedankengut, die Schießtrainings sind offen für Neulinge. Doch im inner Circle laufen Vorbereitungen für schwere Straftaten. Wie die reale Neue Rechte gehören die „Landleute“ und „Jäger“ dieser Freischütz-lnszenierung zu ganz unterschiedlichen Schichten. Sie agieren in der Mitte der Gesellschaft. Kuno, ihr Anführer, ist etwa ein einflussreicher Unternehmer. Von Max verlangt er den Beweis, dass er für die gemeinsame Sache alles tun würde. Das restlose Bekenntnis ist Bedingung für Heirat und Aufstieg. Doch Max ist blockiert von der Situation. Kaspar, ein in Extrem-Situationen bewährter Ex-Soldat, weiß ein Mittel, um die Schusshemmung zu überwinden. Die vermeintliche Hilfe, die er anbietet, zielt aber in Wahrheit auf Zerstörung.

Agathe wiederum ist tief geprägt von der toxischen Beziehung zu ihrem Vater. Nach außen hin erfolgreicher Geschäftsmann und integrer Vater, griff er im Privaten über Jahre hinweg gewaltsam in die Persönlichkeit seiner Tochter ein. In ganz anderer Weise als Max erfährt auch Agathe eine schmerzhafte Konfrontation mit sich selbst.

Im Showdown des Probeschusses kulminieren die aufgestauten inneren Konflikte. Die metaphysischen Elemente, die Geistererscheinungen und Vorahnungen, die göttliche Vorsehung werden übersetzt in Dramen, die sich in der Tiefenpsyche der handelnden Figuren abspielen. An die Stelle romantisch-fantastischer Elemente tritt psychologischer Realismus. Für die Chemnitzer „Freischütz“-Erzählung schufen Annika Haller und Bühnenbildner Wilfried Buchholz eine eigene Dialogfassung.

Das lnszenierungsteam

Jakob Brenner (Musikalische Leitung) ist Koordinierter 1. Kapellmeister der Oper Chemnitz und hat sich inzwischen ein großes Opern-, Operetten und Konzertrepertoire vom Barock bis zur Moderne erarbeitet. Er hat sich als Spezialist für Musical, Jazz, Crossover und Filmmusik international einen Namen gemacht und wird durch Solisten wie das Janoska Ensemble oder Kolsimcha regelmäßig als Gast verpflichtet. Dirigate führten ihn zuletzt ans Nationaltheater Mannheim, ans Theater Regensburg und zu den Berliner Symphonikern. Daneben ist er regelmäßig bei der Württembergischen Philharmonie Reutlingen zu Gast. Mit Herzblut setzt er sich für die Musikvermittlung ein und entwickelt Education-Formate, die Jung und Alt die Freude an klassischer Musik vermitteln sollen. Als Arrangeur arbeitete er bereits für das ZDF sowie u. a. für die Semperoper Dresden, die Komische Oper Berlin, das WDR Funkhausorchester, das Münchner Rundfunkorchester, das Theater Kiel, das Landestheater Salzburg und das Tonkünstlerorchester Niederösterreich. 2017 schrieb er die Arrangements fur das Silvesterkonzert der Sächsischen Staatskapelle unter Christian Thielemann, 2019 für den Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, übertragen vom ZDF.

Guillermo Garcia Calvo (Musikalische Leitung) studierte an der Universitat für Musik und Darstellende Kunst Wien. 2003 debütierte er als Operndirigent mit „Flansel und Gretel“ im Schlosstheater Schönbrunn. Seitdem ist er regelmäßig an der Wiener Staatsoper zu Gast. 2011 gab er mit „Tristan und lsolde“ am Teatro Campoamor in Oviedo sein Operndebüt in Spanien. An diesem Theater leitete er ab 2013 die dortige Erstaufführung der „Ring“-Teile „Das Rheingold“, „Die Walküre“ und „Siegfrieol“. Weitere wichtige Dirigate im Musiktheater führten ihn nach Essen, Berlin, Bukarest, Madrid, Nizza, Florenz, Palma de Mallorca, Parma sowie an die Opéra National de Paris. Außerdem verfügt er über ein umfangreiches Konzertrepertoire und arbeitete mit renommierten internationalen Orchestern. Seit 2017 ist er Generalmusikdirektor an den Theatern Chemnitz und dirigierte hier u. a. Wagners „Ring des Nibelungen“, „Tristan und lsolde“ und „Lohengrin“, Verdis „Ein Maskenball“ und „Aida“, Beethovens „Fidelio“ sowie viele weitere Opernproduktionen und Konzerte mit der Robert-Schumann-Philharmonie. 2020 hat er zusatzlich die Position des Musikclirektors am Teatrode la Zarzuela in Madrid übernommen.

Annika Haller (Inszenierung und Bühne) studierte Bildhauerei an der Accademia di Belle Arti Bologna und im Masterstudiengang Dramaturgie an der Goethe-Universitat Frankfurt bei Prof. Hans-Thies Lehmann. Seit 2001 ist sie freiberuflich als Regisseurin, Dramaturgin, Buhnenbildnerin und bildende Künstlerin tatig. Als Dozentin unterrichtete sie an den Musikhochschulen in Frankfurt am Main und Kassel und an der Akademie der Bildenden Künste Wien. Assistenzen und eigene Arbeiten führten sie u. a. nach London, Mailand, Venedig, Paris, Madrid, zu den Salzburger Festspielen, an die Staatsoper Berlin, nach München, Köln, Graz, Linz und regelmäßig zum Salto Kinen Festival nach Japan. Seit 2015 verbindet sie eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Regisseurin Elisabeth Stoppler. Gemeinsame Produktionen, für die Annika Holler das Bühnenbild schuf, waren zuletzt Bachs „Weihnachtsoratorium” an der Deutschen Oper am Rhein (2021), „Tristan und lsolde“ (2021) und „Gotterdammerung“ (2018) an der Oper Chemnitz und „Oedipus Rex / ll prigioniero” von lgor Strawinsky und Luigi Dallapiccola (2018) an der Semperoper Dresden. Auch mit dem Regisseur Tilman Knabe arbeitet sie regelmäßig zusammen, zuletzt bei „Peter Grimes” von Benjamin Britten (2022) und „Jakob Lenz“ von Wolfgang Rihm am Staatstheater Nürnberg (2019). Für das Format „Oper erleben“ an der Oper Dortmund arbeitete sie bei „Orpheus aus der Unterwelt“ (2022) mit dem Regisseur Alexander Becker zusammen. Im Sommer 2022 war sie im Leitungsteam der Bundesjugendakademie für Junges Musiktheater Rheinsberg für das Coaching von Regie und Bühnenbild verantwortlich.

Gesine Völlm (Kostüme) studierte Bühnen- und Kostümbild bei Jürgen Rose an der staatlichen Akademie der bildenden Künste Stuttgart. Nach einer Bühnenbildassistenz bei Anna Viebrock am Hamburger Schauspielhaus begann sie ihre Laufbahn als Bühnen- und Kostümbildnerin mit Choreograf Joachim Schlömer in Basel und Regisseur Jossi Wieler in Hamburg. Im Laufe der Jahre arbeitete sie an vielen großen Sprechtheaterbühnen im gesamten deutschsprachigen Raum, war für zwei Jahre fest als Ausstatterin in Hannover engagiert und entwirft nunmehr Bühnen- und Kostümbilder für die Oper im In- und Ausland, wo sie mit Regisseuren wie Philipp Himmelmann, Stefan Otteni, Anselm Weber, Barbara Frey, Barbara Burk und Karin Beier zusammenarbeitete. 2008 begann ihre Zusammenarbeit mit Stefan Herheim, die sie von Bayreuth über Salzburg, Brüssel, Hamburg, Stuttgart, Barcelona, Paris, London, Oslo, Kopenhagen nach Graz und Dresden führte. Eine langjährige Zusammenarbeit verbindet sie mit Johannes Erath (u. a. „Euryanthe“ an der Oper Frankfurt). Bei den Bregenzer Festspielen entstanden 2016 die Kostüme zu Franco Faccios „Hamlet“ und für Claus Guth erarbeitete sie 2020/2021 die Kostüme für „Jenůfa“ am Royal Opera House. 2022/2023 entwirft sie Kostüme für das Festival von Aix en Provence für eine Uraufführung von Pascal Dusapins „ll viaggio di Dante“ und die Kostüme für „Semele“ an der Bayerischen Staatsoper München (2023) in Kooperation mit der Metropolitan Opera New York (2024).

Wilfried Buchholz (Bühne, Textfassung) studierte zunächst diverse Kulturwissenschaften (Judaistik, Altorientalistik, Altgriechisch, Afrikanistik), bis ihn in Wien das Theater einholte. Drei Jahre war er auf und hinter der Bühne des Serapionstheaters tätig. Darauf folgten Hospitanzen an der Oper (Regie), später auch am Deutschen Theater Berlin (Dramaturgie). Dazwischen absolvierte er eine Ausbildung zum Bühnen- und Kostümbildner. Über Stationen als Ausstatter in Wuppertal und Weimar kam er als Schauspieldramaturg 2004 nach Chemnitz. Danach entschied er sich für eine freie Tätigkeit im Bereich Dramaturgie sowie Bühnen- und Kostümbild (u. a. an den Opern Stuttgart und Hannover, in München und Bremen). Diese wurde unterbrochen durch einige wichtige Jahre als Ausstattungsleiter in Rudolstadt. Zu seinen letzten Arbeiten gehören Libretto und Ausstattung des Tanztheaterstücks „Für Maria – Mitte der Nacht“ nach Musik von Bohuslav Martinü für das Sorbische Nationalensemble.


Der Freischütz

Romantische Oper in drei Aufzügen

Von: Carl Maria von Weber
Libretto: Friedrich Kind
Uraufführung: 18. Juni 1821, (Berlin, Konzerthaus Berlin)

Premiere an der Oper Chemnitz: 29. April 23 (Opernhaus Chemnitz)

Musikalische Leitung: Jakob Brenner / Guillermo García Calvo
Inszenierung: Annika Haller
Bühne: Annika Haller, Wilfried Buchholz
Kostüme: Gesine Völlm
Chor: Stefan Bilz
Mit: Krešimir Dujmié (Ottokar), Andre Eckert (Kuno), Alexander Kiechle (Eremit), Gerry Zimmermann (Kilian), Magdalena Hinterdobler (Agathe), Marie Hansel (Annchen), Bjørn Waag (Kaspar), Collin André Schoning (Max)

Die nächsten Vorstellungen sind am 5. und 12. Mai 2023,je 19.00 Uhr.

Das Opernfrühstück zur Inszenierung findet am 10. April 2023, um 10:30 Uhr im Foyer des Opernhauses statt. Das Regieteam wird gemeinsam mit dem Dramaturgen Johannes Frohnsdorf einen Einblick in die Premierenvorbereitungen gewähren, begleitet von musikalischen Beiträgen durch Solistinnen des Ensembles.

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